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Magazin für Filmkritik

Die 10 besten Tanzszenen im Film

Rose (Kate Winslet) und Jack (Leo DiCaprio) tanzen in der dritten Klasse der RMS Titanic.

Wenn wir anfangen zu tanzen, bedarf es keiner Worte mehr. Hier beginnt das Kino, genuin filmisch zu erzählen. Über die Bewegung von Körpern, in variierenden Einstellungsgrößen, im Rhythmus eines Schnittes, zu Musik und Klängen. Im Tanz können wir uns dem Unaussprechlichen und Unsagbaren nähern, ohne es intellektuell und sprachlich greifen zu müssen. Stattdessen können wir es fühlen. Wenn ich Filme schaue, sind es eben jene Momente unsagbarer, unaussprechlicher Erfahrung, nach denen ich mich sehne und die mich nachhaltig beschäftigen. Es sind auch Momente des Wiedererkennens und des Sich-Verstanden-Fühlens in der visuellen Sprache eines anderen. Einer Sprache, die nie ganz entschlüsselt werden kann, für die es keinen Duden und kein festes Regelwerk gibt, die mich aber dennoch über alle Erfahrungsgrenzen hinweg erreicht. Das ist für mich das größte Wunder überhaupt.

Honourable Mentions:

Titanic [US ’97 | James Cameron]

Dirty Dancing [US ’87 | Emile Ardolino]

Climax [FR ’18 | Gaspar Noé]

10: Return to Seoul [KR, FR ’22 | Davy Chou]

Raumgreifend, unbändig, fast aggressiv. Ich empfand Frédérique (Ji-Min Park) den gesamten Film über als ambivalentes Identifikationsangebot; eine Protagonistin, die man auch leicht unsympathisch finden kann, die man mindestens nicht einzuordnen weiß. Genau diese ambivalente Gefühlslage drückt sich in dieser Szene aus: Frédérique folgt dem unbändigen Impuls, zu tanzen, und nimmt sich den ganzen Raum als Bühne für ihren Ausdruck. Ihr Tanz ist gleichermaßen freiheitsliebend wie egoistisch. Als Französin in Südkorea passt sie nie ganz hinein, doch ihr Anderssein deutet sie proaktiv um, bringt es tänzerisch zur Aufführung, mitsamt aller sozialen Normverstöße, die ihr expressives Gebaren mit sich bringen könnte. Ein mutiger Tanz, der sagt: „Ja, ich bin anders und ich feiere meine Andersartigkeit! Seht her, hier bin ich!“

9: Singing in the Rain [US ’52 | Gene Kelly & Stanley Donen]

Unbändige Lebensfreude gebannt in einen atemberaubenden Tanz. Es gibt Leute, die machen ihre Laune vom Wetter abhängig – nicht so Gene Kelly, der uns daran erinnert, dass es an uns liegt, ob wir miesepetrig durch die Pfützen stampfen oder uns mit offenen Armen und Herzen dem Regen ergeben. Kelly, der beim Dreh dieser Szene unter 39-Grad Fieber litt, strahlt eine verliebte Leichtigkeit aus, auf die man nur neidisch sein kann.

8: Poor Things [UK, IRL, US ’23 | Yorgos Lanthimos]

Ein urkomischer Film, der meiner Meinung nach allzu verkrampft rezipiert worden ist. Würde man Poor Things mit derselben Lässigkeit genießen wie sie Mark Ruffalo in seiner Performance als Duncan Wedderburn (oder auch „habgieriger Sukkubus von einem Liebhaber“) an den Tag legt, könnte man eine ziemlich gute Zeit haben, ohne sich in sinnlosen Debatten über kunstgewerbliche Ästhetiken zu verausgaben. Was hier jedenfalls aufs Parkett gebracht wird, ist gleichermaßen komisch wie kreativ, eine Art postmoderner Paartanz, aus dem die eine ausbrechen und der andere die Kontrolle übernehmen will – bis die Avancen des Tischnachbarn wieder den Höhlenmenschen erwecken.

7: Anima [US ’20 | Paul Thomas Anderson]

Das letzte Segment aus dem Kurzfilmprojekt von Radiohead-Frontmann Thom Yorke und Regisseur Paul Thomas Anderson führt uns durch die Prager Altstadt kurz vor Morgengrauen. Das sind zärtliche Berührungen übersetzt in Tanz, begleitet von Yorkes melancholischen Dawn Chorus. Nicht nur die hinreißenden Aufnahmen der Stadt, auch der Ausdruck von Yorke und besonders seiner Tanzpartnerin Dajana Roncione finde ich tief berührend. Eine alte, neue Sonne geht auf, die Vögel stimmen ihr Lied an und die Träume der Nacht ziehen sich in die Fugen des anbrechenden Tages zurück.

O.K. Corral
If you could do it all again
This time with style

6: Fearless [US ’93 | Peter Weir]

Max (Jeff Bridges) und Carla (Rosie Perez) geben einander Halt, nachdem sie beide einen Flugzeugabsturz überlebt haben. Carla verlor ihr Kind, Max einen Arbeitskollegen. Irgendetwas ist mit dieser Katastrophe zurückgeblieben – oder vorgegangen. Zurück bleiben sie als Gespenster, unsichtbar und unempfänglich für das, was ihrem Leben zuvor Sinn gestiftet hat. Ihr Tanz zu Beethoven bildet nur einen kurzen Moment des Aufatmens und Ausbruchs aus der existenziellen Heimatlosigkeit, überbrückt nur für einen kurzen Moment die gekappten Verbindungen zu ihren Außenwelten, zu ihren alten Leben. Der sonst unbeachtete Shopping-Mall-Pianist weiß es zu schätzen – ich auch.

5: Beau Travail [FR ’99 | Claire Denis]

Der Lebensrhythmus von Galoup (Denis Lavant) drückt sich in einem radikalen Wechselspiel aus: Zurückhaltung und Explosion. Gekonnte Tanzbewegungen, die sich mit unkoordinierten, explosiven Körperzuckungen abwechseln. Eitle Selbstbeobachtungen, die von einem rasenden, sich auf dem Boden wälzenden Körper durchkreuzt werden. Eingeübter Kontrollverlust bei jemandem, dessen Leben durch Disziplin, Unterdrückung und Gehorsam organisiert wurde. Hinzu kommt der vielleicht kreativste Szenenübergang aller Zeiten: ein zuckender Oberarmmuskel, der den Beat des Abschlusslieds vorwegnimmt.

4: American Beauty [US ’99 | Sam Mendes]

Der Tanz als Moment (wieder-)entfachten sexuellen Begehrens. Der apathische Lester (Kevin Spacey) wird bei einer Tanzaufführung seiner Tochter auf ihre Mitschülerin Angela (Mena Suvari) aufmerksam. Während die Gruppe On Broadway darbietet, geht die Szene langsam in eine Fantasie von Lester über, in der Angela nur für ihn alleine und zunehmend erotisch tanzt. Die Zeit stellt sich vertikal, Einstellungen wiederholen sich und Gesichter werden auf Nahaufnahme vergrößert, um die Blicke zwischen Fantasieobjekt und Fantasierenden einzufangen. Untermalt wird die Szene vom brillanten Score von Thomas Newmann, der On Broadway allmählich durch dissonante, repetitive Perkussion-Klänge ersetzt. Bis zum Höhepunkt, in dem sich die Fantasie mit den ikonischen Rosenblättern selbst zensiert.

3: Aftersun [UK ’22 | Charlotte Wells]

Diese Schlüsselszene im Stroboskopgewitter, sie ist Zeugnis dessen, wozu das Kino fähig ist, wenn das Wort an seine Grenzen gerät und sich stattdessen Bilder und Töne zu einem genuinen Ausdruck verschmelzen, der nur dem Film eigen ist, der über alles Verbalisierte und Rationalisierte hinausgeht und stattdessen eine direkte Verbindung zu den Herzkammern seiner Zuschauer herstellt. Sie plündert. Hier ist es auch, wo sich der Film konkret erzählt – in den Zwischenräumen, in den Unschärfen, den Rissen. Und in den Rissen einer erinnerten Gegenwart klaffen die Verletzungen der Vergangenheit, lose zusammengehalten durch eine sich entkleidende, skelettierte Version von Queens Under Pressure. Das ist eine Erinnerung, die nicht erinnert werden kann, ohne, dass die Zukunft bereits ihre Schatten wirft. Ein fotografisches Fragment, das nicht isoliert werden kann vom Schatten eines Geistes. Es sind diese Schatten, die uns nicht aus dem Kopf gehen wollen. Sie verweilen. Sie flackern. Sie begleiten uns. Sie durchkreuzen die Nostalgie, kippen die Erinnerung ins albtraumhafte. Es bleibt nur ein verzweifelter, wütender Schrei, der in Dunkelheit unerwidert verklingt.

2: Suspiria [US, IT ’18 | Luca Guadagnino]

Diese Szene ist ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie Guadagnino die Vorlage konsequent weiterdenkt, statt sie nur zu modernisieren. Nicht nur spielt das Tanzen in dieser Neuinterpretation des italienischen Giallo-Klassikers eine hervorgehobene Rolle, sie verbindet sich auch sinnig mit den übernatürlichen Kräften des Hexenzirkels. Das Resultat ist feinster Body Horror, der Figuren vertieft, andere ausradiert, die Geschichte voranbringt und all das fast ausschließlich nonverbal vermittelt. Eine absolute Meisterleistung ist neben dem komplexen Schnitt und den praktischen Effekten auch der deformative Tanz von Elena Fokina, die hier das Opfer des Schadenzaubers mimt. Selten bin ich bei einer Tanzszene so oft zusammengezuckt und konnte den Blick dennoch nicht abwenden.

1: Burning [KR ’18 | Lee Chang-dong]

Eine junge Frau (Jeon Jong-seo) zieht an einem Joint, die Trompete von Miles Davis erklingt aus den Autoboxen ihres Freundes und sie überkommt der spontane Impuls, ihren Körper in Bewegung zu versetzen. Lee Chang-dongs rätselhafter Burning findet hier seinen Kulminationspunkt. Die blaue Stunde, das koreanische Grenzgebiet, die überschäumenden Gefühle, für die man keine Worte findet – all das findet zueinander und löst sich in einem unaussprechlichen Tanz des großen Hungers auf. Doch die traumwandlerische Leichtigkeit gerät zusehendes schwerfälliger, der Moment vergeht, der Rausch verfliegt, die Musik verstummt. Und der Schmerz fährt in diesen Film hinein wie eine stumpfe Klinge, zurück bleibt ein leises Schluchzen und … das große Nichts?