Die besten Filme 2024
Mein persönliches Filmjahr hat gut begonnen – im Januar schaute ich jeden Tag einen Film. Diese Serie setzte sich bis in den Februar fort. Danach wurden die Sichtungen spärlicher. Ich weiß nicht, ob es anderen Filmfans auch so geht, aber ich habe Phasen, in denen ich einfach keine Filme mehr schauen kann. An die Stelle von Filmen treten dann Bücher und viel zu viel YouTube-Nonsens. Vielleicht ist das eine Art Reinigungsprogramm des Geistes, vielleicht zeigen sich nach zwei Jahrzehnten Filmleidenschaft auch erste Ermüdungserscheinungen (bis der nächste richtig gute Film um die Ecke kommt natürlich). Jetzt, gegen Ende des Jahres, habe ich versucht, das ein oder andere nachzuholen, viele gefeierte Festival- und Kinokassen-Lieblinge fehlen mir aber dennoch. Um zweiteres ist das nicht gerade schade, wenn ich so an Deadpool & Wolverine zurückdenke. Manchmal braucht es eben Trockenbrot, um das Steak wieder wertzuschätzen. Und dieses Jahr gab es einige Steaks im Kino, ohne überflüssige Kalorien serviert, auf den Punkt gegart und ohne unnötige Beilagen (für weitere Appetit-anregende Gedanken zum Verhältnis von Essen und Film bitte hier entlang). Es war ein gutes Jahr für Filme, würde ich sagen, das bei allen unsäglichen Kinotrends, einer Menge origineller Stoffe die verdiente Aufmerksamkeit zukommen ließ. Ich hoffe, der ein oder andere kann etwas mit meiner persönlichen Menüliste anfangen …
Anora
von Sean Baker
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Anoras (Mikey Madison) irrationale Anhänglichkeit gegenüber dem spätpubertären, verwöhnten Oligarchensohn (Mark Eydelshteyn) als glaubhaftes, charakterliches Verhalten oder eher als leichte Drehbuchverrenkung verbuchen soll. Ich schätze sie jedenfalls viel abgeklärter ein als sie sich gegenüber ihm und seinen Eltern naiverweise gibt. Aber möglicherweise ist das der interessante, weil kontraintuitive Punkt an ihrer Figur, die hier nicht bloß einen ökonomischen Aufstieg für sich sieht, sondern auch die Möglichkeit, zu etwas dazuzugehören, das über das Ökonomische hinausgeht; die Zuwendung und Liebe ohne Bedingungen sucht. Abgesehen von diesen ambivalenten Gefühlen halte ich Anora auf seine beiläufige, mühelose Art für einen der lustigsten Filme des Jahres.
The Zone of Interest
von Jonathan Glazer
Dieser Film wird sich in der Filmgeschichte verewigen, so wie er die brutale, weil alltägliche Beiläufigkeit der Shoah im Bildgedächtnis seines Publikums verewigt hat. Neben der eindrücklichen Bildlandschaft des Filmes, die durch distanzierte bis abstrahierende Formen unser Sehen herausfordert, sticht eine rumorende, mechanische Soundlandschaft hervor, die das Hintergrundrauschen der Vernichtung bildet. The Zone of Interest ist kein abgeschotteter Blick in die Vergangenheit, aus der Sicherheit gegenwärtigen Wissens und Gewissens, sondern ein Verbindungspunkt in unsere Gegenwart, die ratlos den Blick erwidert, den ihr die Vergangenheit mit flauem Magen zuwirft. Glazer ist das Kunststück gelungen, Avantgardefilm in Zeiten von Franchise- und Jahrmarktkino salonfähig zu machen. Das ist ein kaum zu überschätzendes Verdienst.
Longlegs
von Ozgood Perkins
Longlegs wurde vom eigenen Hype verschluckt. Ich bin auch nicht sicher, ob er eine zweite Sichtung bei mir überleben wird. Aber die erste Sichtung, alleine zuhause, die Treppe in meinem Rücken, hat mich Schatten sehen lassen, wo keine sind und mir über eine Stunde die Luft zum Atmen geraubt. Und ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe.
„Die Vororte in Longlegs haben in ihrer Gleichförmigkeit etwas gespenstisches. Alles liegt unter einer grauen Wolkendecke begraben, die sich nur durch vereinzelte Blitze erhellt. Gleichsam strahlt die brutale Tristesse dieser grauen, sterilen Welt auf seine Figuren ab. Da ist der autistische Eisklotz Harker und der um Haltung bemühte FBI-Vorgesetzte Carter (Blair Underwood): es menschelt nicht zwischen diesem vermeintlich inkompatiblen Duo, das einzig allein die Suche nach einem Mörder eint. Sie sind das behördliche Inventar einer apathischen Gesellschaft, die nur von den exzentrischen Gefühlswallungen eines Longlegs (Nicolas Cage) erschüttert wird und dessen Gewalt wie ein Blitz in die graue Tristesse hineinfährt. Am Ende ist Nicolas Cage als blasser Manson-Verschnitt ironischerweise der einzige Mensch in diesem Film, der noch Gefühle zeigt.“ […]
Poor Things
von Yorgos Lanthimos
Ein urkomischer Film, der meiner Meinung nach allzu verkrampft rezipiert worden ist. Würde man Poor Things mit derselben Lässigkeit genießen wie sie Mark Ruffalo in seiner Performance als Duncan Wedderburn (oder auch „habgieriger Sukkubus von einem Liebhaber“) an den Tag legt, könnte man eine ziemlich gute Zeit haben, ohne sich in sinnlosen Debatten über kunstgewerbliche Ästhetiken zu verausgaben.
Dune: Part Two
von Denis Villeneuve
Ich habe ihn nun dreimal gesehen. Dreimal war ich in die erste Stunde verliebt, die entschleunigte Einführung in die Fremen-Kultur, die Musik von Hans Zimmer (A Time of Quiet Between the Storms), vor allem aber die Zumutung und das Zutrauen in die Zuschauerschaft, bei all den Parteien und Sprachen den Überblick zu behalten. Die finale Schlacht versucht die Leerstellen der Vorlage aufzufüllen und ist strategisch ebenso unbefriedigend wie die The Long Night-Episode aus Game of Thrones Staffel 8. Dafür beschränkt sich Villeneuve auf das Nötigste und legt den Fokus auf den wichtigeren und interessanteren Zweikampf zwischen Paul (Timothée Chalamet) und Feyd-Rautha (Austin Butler). Manchmal ist Dune: Part Two von einer peinlichen Bräsigkeit, einer bedeutungsschweren, freudlosen Schwere, die mich an Nolan und Scott erinnert, in seinen besten Momenten beschwört er die Magie eines der spannendsten und unzugänglichsten SiFi-Universen der Literaturgeschichte herauf und macht sie einem breiten Publikum erstmals zugänglich (mehr auf Kino-Zeit).
Rebel Ridge
von Jeremy Saulnier
Der Junge und der Reiher
von Hayao Miyazaki
Wer Miyazakis Filme kennt, wird hier nicht allzu viel Neues erfahren oder sehen, dafür jede Menge Echos aus seinem Werk vernehmen, von Chihiros Reise ins Zauberland bis zu Wie der Wind sich hebt. Ich fand das nicht schlimm, dafür ist das erneut viel zu berauschend visualisiert und liebevoll detailliert animiert. Miyazaki kennt jeden Trick, der eine Welt lebendig und gelebt wirken lässt, von den kleinen Handgriffen der Figuren, Interaktionen mit der Umgebung bis zu den großen, malerischen Panoramen. Große Meisterwerke sollte man indes nicht mehr erwarten, dafür hat der Altmeister eine solche Art Geschichte bereits besser erzählt.
Mars Express
von Jérémie Périn
Inside Out 2
von Kelsey Mann
Hauptfigur Riley wird als pubertierendes Mädchen richtiggehend unsympathisch – das ist richtig und wichtig, um die verschiedenen, neuen Emotionen zu erforschen und ihre jeweiligen Rollen auszuleuchten. Ich liebe die Idee des Sarkasmus-Grabens und die elektrisierende Vocal Performance von Maya Hawke als Anxiety, die plötzlich alle Hebel in den Händen hält, jeden Gedanken diktiert – und genau das ist Angst, wenn sie allgegenwärtig wird: eine Diktatur über das Denken, ein Überlebensinstinkt, der sich gegen sich selbst richtet. Wie wichtig kann ein solcher Film für junge Menschen sein.
A Different Man
von Aaron Schimberg
Red Rooms
von Pascal Plante
Ziemlich origineller Film über ein junges Model slash Hackerin slash Krypto-Pokerspielerin (Juliette Gariépy), die vom Mordfall an drei jungen Mädchen und ihren vermeintlichen Mörder besessen ist, der seine Taten im Dark Web live gestreamt hat. Große Gewinnerin ist definitiv Gariépy, die sich mit ihrer unterkühlten Performance für künftige Lisbeth Salander-Iterationen empfiehlt. Red Rooms spielt sich die meiste Laufzeit in einem ziemlich unbequemen Zwischenraum ab, da nie klar ist, ob Hauptfigur Kelly-Anne nun obsessiver Fan des Killers oder vielleicht doch Schwester/Freundin eines der Opfer ist. Hieraus zieht der Film einiges an Spannung, die sich am Ende leider allzu buchstäblich auflöst. Trotzdem bleibt Pantes Herangehensweise an das Thema Voyeurismus ambivalenter und nachdenklicher stimmend als viele vergleichbare Filme, da er den Blick fest auf die Voyeuristen richtet und eben nicht auf Täter und Taten, die immer nur über die Perspektive des Betrachters, über die Bande, geschildert werden. Der Blick, der auf Kelly-Anne und ihr Zwei-Monitor-Set-Up in einem aseptischen, teuren Apartmentkomplex fällt, auf ihre Obsession, ihre manische Neugierde, fällt auch geradewegs auf den Zuschauer, der sich in der Spiegelung der Bildschirmoberfläche unfreiwillig (wieder)erkennen muss – wenn er bereit ist, hinzusehen.
All of Us Strangers
von Andrew Haigh
Dream Scenario
von Kristoffer Borgli
Auch wenn Dream Scenario seine angefangenen Ideen und aufgenommenen Fährten nicht konsequent zu Ende führt, hat mich die Fülle an Einfällen doch überzeugt – neben einem perfekten Nicolas Cage, der hier eine so bemerkenswert unbemerkenswerte Figur spielt, dass sie seiner langen Karriere tatsächlich noch etwas Neues hinzufügt. Es geht um Traum vs. Wirklichkeit und Träume, die in die Realität übersetzt werden (sollen) – sei es als sexuelle Fantasie, die an einer vorzeitigen Ejakulation und nervöser Flatulenz scheitert oder als selbsterfüllende Prophezeiung, die die Alpträume rund um Protagonist Paul (Cage) in realer Gewalt münden lässt. Es geht um die Selbstvermarktung eines Durchschnittsakademikers, der plötzlich berühmt wird und von einer hippen, seelenaufressend freundlich-desinteressierten Werbeagentur als Traum-Testimonial profitabel gemacht werden soll. Es geht natürlich auch um die Lebensträume, die immer aufgeschoben und deshalb unverwirklicht bleiben, so wie ein Buch über Ameisen, das Paul immer schreiben will, aber nie schreiben wird, weil die Vorstellung von diesem Buch und dem damit einhergehenden Ruhm schon viel zu einschüchternd detailliert imaginiert worden ist. Dream Scenario endet bei aller Absurdität und allen Seitentritten gegen Vermarktungslogiken und Cancel Culture überraschenderweise auf einer zwischenmenschlichen, geradezu romantischen Note. Das ist nicht wirklich radikal, eher der cheap way out, vollzieht aber so gekonnt den Rückgriff auf vorangegangene Szenen, dass ich ehrlich ein bisschen berührt war.
The Holdovers
von Alexander Payne
*Headerbild: Y. Chaki, The Four Seasons, Öl auf Leinwand, 335cm x 670cm, 1988: Royal Bank of Canada