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Magazin für Filmkritik

Drei Minuten ohne Luft – „Die Schneegesellschaft“ von J. A. Bayona

Die Schneegesellschaft

Ein Film, der auf einem wahren Ereignis beruht, das so drastisch ist wie jenes, das »Die Schneegesellschaft« aufgreift, hat es einerseits sehr einfach: die Geschichte ist heftig. Sie versetzt ins Staunen. Verleitet zum Mitfiebern. Wir wissen in jedem Moment: So etwas oder so etwas ähnliches hat schonmal jemand durchleben und durchleiden müssen.

Der Film beruht auf der Flugkatastrophe eines Fluges aus dem Jahr 1972, bei dem ein Rugby-Team auf dem Weg von Urugay nach Chile in den Anden abstürzt. Es folgt ein Überlebenskampf, der an Rohheit kaum noch zu überbieten ist. Es ist ein Kampf um die Grundbedingungen des Lebens: Atmen, Trinken, Essen, Wärme. „Do you know the rule of three?“, fragt einer der Abgestürzten seinen Leidensgenossen, und erklärt weiter: „You can go three minutes without air, three days without water, and three weeks without food“. Das ist die Lebensrealität, in der sich die Fluginsassen schlagartig befinden. Zurückgeworfen auf das nackte Überleben in der eisigen Kälte der schier unüberwindbaren Berge.

Andererseits hat so ein Film es aber auch besonders schwer: Wie kann es gelingen, eine Ausnahmesituation wie diese zu vermitteln, fühlbar werden zu lassen, ohne sein Kinopublikum zu überfordern? Und auch ohne sich auf der Wirklichkeit der dargestellten Handlung auszuruhen? Eine Wirklichkeitsdarstellung ist ja gewissermaßen an sich schon ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben. Eine Darstellung ist nicht die Wirklichkeit und hat vielleicht ungefähr so viel mit ihr zu tun wie ein Tinderprofill mit dem Menschen dahinter.

Hollywood-Tratsch

Es gibt bereits eine Verfilmung der Ereignisse aus dem Jahr 1993. „Alive“ mit Ethan Hawke in der Hauptrolle. Die Verfilmung bedient sich vielmehr verkitschter Hollywood-Methoden: die Inszenierung eines Helden, interpersonelle Konflikte in der Gruppe, Überzeichnung der Charaktere, Dramatik und das vorsichtige Hinzuerfinden der Handlung dienlicher Ereignisse. „Die Schneegesellschaft“ geht einen anderen Weg. Die Gruppe agiert weitestgehend geschlossen. Zurückgeworfen auf das nackte Überleben herrschen Kooperation und Nächstenliebe vor. Niemand wird hier zum Wolf. Der gemeinsame Feind ist die todbringende Kälte, das karge Land, das kein Essen bereitstellt.

Diese Darstellung ist lobenswert! Sie ist die Richtigstellung eines durch Fiktionen befeuerten Mythos: der Mensch in seinem Urzustand sei eine Bestie. Wenn man Geschichten, auch Filme, als die Fortführung von Tratsch betrachtet, macht es nur Sinn, dass vor allem die aufregendsten, dramatischsten, mich selbst etwas angehenden Geschichten solche sind, die das alltägliche Drama zwischenmenschlicher Reibung aufgreifen. Auch in der Ausnahmesituation. Aber es wäre ein Fehlschluss deshalb zu glauben, dieses Drama sei die Wirklichkeit. Es ist allenfalls eine Fantasie zur Emotionsregulation.

Helden sind etwas für den Alltag

Helden sind etwas – auch wenn das erstmal kontraintuitiv klingt – für den Alltag. Wir haben die Fantasie zu glänzen, aus der namenlosen Menge herauszuragen, Hürden zu erklimmen und als Resultat von allen bewundert und geliebt zu werden. Aber das ist eine Fantasie, die dem Tratsch entspringt, dem Grundgedanken: Was werden die anderen von mir halten? Wie wird man über mich reden? Luxusgedanken, mit denen man sich befassen kann, sobald man die Drei-Minuten-Regel vergessen darf. Wo man aufhören darf, sich um Atmen, Essen, Trinken und Wärme zu sorgen.

Angesichts des Todes geht es in erster Linie um Liebe und Gemeinschaft. »Die Schneegesellschaft«, die es bereits im Titel trägt, bebildert diese Einsicht eindrücklich. Niemand ist hier der alleinige herausragende Held. Jeder trägt seinen Teil bei und möchte für die Gruppe das Beste. Selbst die Verstorbenen bekommen eine Stimme und werden als unabdingbarer Teil dieser „Gesellschaft“ betrachtet.

Angesichts des Todes braucht es keine Filme

Eine heldenlose Gruppe zu zeigen, sich der Wahrheit statt dem Tratsch zu verpflichten, dabei selbstreferenziell auch die eigene Fehlbarkeit in diesem Anspruch anzudeuten, und mit dem Titel bereits darauf hinzuweisen, eine „Gesellschaft“ darzustellen, ist natürlich auch ein politisches Statement. Sobald sich eine Gruppe von Menschen dem gemeinsamen Feind des Todes gegenübergestellt sieht, braucht sie sich nicht untereinander zu verfeinden. Sie braucht auch keine Helden und glänze Persönlichkeiten, keine Erfolgsgeschichten und aufgeplusterten Egos, um über unser aller Sterblichkeit hinwegzutäuschen.

Und trotz dieser schönen politischen Message fällt es schwer, jene über ein Filmstaunen hinaus zu verinnerlichen. Wohl niemand ist bereit dazu, die Strapazen der Überlebenden in den Anden wirklich nachzufühlen. Es ist eben doch nur ein Film, ein wenig Tratsch über die Herausforderungen des nackten Überlebens, aber keine wirklich existenzielle Konfrontation. Es ist eine Darstellung und bleibt eine Kopfgeburt.

„Die Schneegesellschaft“ macht sich mit seinem Wirklichkeitsanspruch gewissermaßen selbst unnötig. Denn es ist gar nicht so verkehrt, im Medium des Films und in der Fantasie zwischenmenschliches Drama zu verhandeln. Auch im Survivalfilm. Und auch, wenn er auf wahren Ereignissen beruht! Es gehört zur Medienkompetenz, erkennen zu können, dass die Darstellung der Wirklichkeit allenfalls mit der Wahrheit und Vollständigkeit eines Tinderprofils vergleichbar ist. Aber zumindest – so die Hoffnung – beinhaltet der Film eine Mahnung an eben jene Wirklichkeitsdimension, die sich filmisch nicht greifen lässt, die aber in der Drei-Minuten-Regel grausig zusammengefasst wird: Drei Minuten ohne Luft, Drei Tage ohne Wasser, Drei Wochen ohne Essen. Sich diese Realität vergegenwärtigend braucht es keine Helden. Aber leider auch keine Filme.


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