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Magazin für Filmkritik

Einen Geist berühren – „Aftersun“ von Charlotte Wells

Sophie (Frankie Corio) und Calum (Paul Mescal) im Türkeiurlaub.

Im stroboskopartigen Gewitter, in dem sich die Evergreens der Neunziger bis auf ihre herzzerreißenden Textzeilen rhythmisch entkleiden, kann sie der Erinnerung für eine Sekunde habhaft werden – sie festhalten, umschlingen, einatmen. Es ist der Kulminationspunkt eines Filmes, der die Abwesenheit eines Menschen über seine gespenstische Anwesenheit erzählt. Calum (Paul Mescal), der Vater der elfjährigen Sophie (Frankie Corio), ist und bleibt über den Verlauf eines Urlaubs in einem türkischen Resort eine enigmatische, unscharfe Erinnerungsfigur. Wie viel Last lässt sich in einen einzigen Blick verpacken, Paul Mescal? Und wie viel vorsichtige, empathische Neugier kann sich einem Gesicht erzählen, Frankie Corio? Aftersun hat mich bis auf die Grundfeste abgefackelt, ohne, dass ich den Einschlag je kommen sah. Dieser vermeintliche Urlaubsfilm kommt mit der Zeit, mäandert durch typische Urlaubsaktivitäten (Schwimmen, Arcade, Abendessen, Karaokeabend, Tauchen), ehe sich einem die ganze Tragik dieser Geschichte völlig unverblümt offenbart.

Und diese Schlüsselszene im Stroboskopgewitter, sie ist Zeugnis dessen, wozu das Kino fähig ist, wenn das Wort an seine Grenzen gerät und sich stattdessen Bilder und Töne zu einem genuinen Ausdruck verschmelzen, der nur dem Film eigen ist, der über alles Verbalisierte und Rationalisierte hinausgeht und stattdessen eine direkte Verbindung zu den Herzkammern seiner Zuschauer herstellt. Sie plündert. Hier ist es auch, wo sich der Film konkret erzählt – in den Zwischenräumen, in den Unschärfen, den Rissen. Und in den Rissen einer erinnerten Gegenwart klaffen die Verletzungen der Vergangenheit, lose zusammengehalten durch eine sich entkleidende, skelettierte Version von Queens Under Pressure. Das ist eine Erinnerung, die nicht erinnert werden kann, ohne, dass die Zukunft bereits ihre Schatten wirft. Ein fotografisches Fragment, das nicht isoliert werden kann vom Schatten eines Geistes. Es sind diese Schatten, die uns nicht aus dem Kopf gehen wollen. Sie verweilen. Sie flackern. Sie begleiten uns. Sie durchkreuzen die Nostalgie, kippen die Erinnerung ins albtraumhafte. Es bleibt nur ein verzweifelter, wütender Schrei, der in Dunkelheit unerwidert verklingt.


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