Bildsucht

Magazin für Filmkritik

Gesellschaft im Wandel – „Pleasantville“ von Gary Ross

Für einen Film von 1998 ist der Einstieg erschreckend gegenwärtig: im College werden David (Tobey Maguire) und seine Kommilitonen über den angespannten Arbeitsmarkt, Unfallstatistiken, Ozonlöcher und die Klimaerwärmung unterrichtet – „Wer kann mir sagen, was man unter einem Taifun versteht?“ Auf dem Campus tagträumt David derweil davon, wie er seinen heimlichen Schwarm anspricht, während er sie in Wirklichkeit nur aus der Ferne beobachtet. Zuhause sitzt er dann vor dem Fernseher, verfolgt alte Folgen der 50er-Jahre-Sitcom „Pleasantville“ und muss ein wütendes Streitgespräch zwischen seiner Mutter und ihrem Ex-Gatten überhören, ehe er gemeinsam mit seiner Schwester auf wundersame Weise in der Welt der Fernsehserie landet.

Flucht in die Fiktion

Die Serie dient als temporärer Fluchtpunkt aus der unsicheren Gegenwart, als Rückzugsort in eine nostalgische Amerika-Erinnerung, in der die Gartenzäune noch weiß und der Rasen noch grün war. Es ist eine Flucht in die Vergangenheit einer trügerischen Utopie, in die Kleinstadtidylle eines Frank Capra etwa, die im starken Kontrast zu den anonymen, urbanen Räumen der Großstädte steht. Und es ist eine Flucht ins Fernsehen mit seinen fest etablierten Genre-Konventionen und der tröstenden Gewissheit, dass nächste Woche wieder alles so ist, wie man es gewohnt ist.

Wenn ich also David sehe, wie er selig in die Flimmerkiste starrt, dann kann ich das als Filmliebhaber natürlich nur nachvollziehen. Selbst der herausforderndste Kunstfilm ist immer noch stringenter und kohärenter als alles, was einem in der chaotischen, aufregenden und unkontrollierbaren Wirklichkeit begegnet. Zugleich bietet der Film eine Antwort auf die restaurativen und regressiven Bewegungen, die momentan Politik und Gesellschaft erfassen. Zurückgehen in die Sicherheit, in die Struktur liebgewonnener Gewohnheiten, fühlt sich so viel leichter an als mit Veränderungen umzugehen. Der Film stellt sich diesem ängstlichen Impuls entgegen, indem er Veränderung als Fortschritt erzählt und zugleich die Lügen falscher Erinnerung entlarvt.

Befreiung durch Kunst

Besonders eindrücklich erzählt der Film die Transformationsprozesse dieser Truman’schen Traumwelt (Doublefeature Trumanville) über die Figuren von Bill (Jeff Daniels) und Betty (Joan Allen). Während Betty über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter hinauszuwachsen beginnt, entdeckt sich Bill in der Welt der Kunst neu – mehr noch: er beginnt die Welt durch die Farben der Kunst, durch die Verfremdung und Abstraktion, durch die Bilder von Van Gogh, Turner und Picasso gänzlich neu zu sehen. Zugleich entdeckt sich Betty durch seine Kunst als begehrenswertes, sexuell selbstbestimmtes Subjekt.

In der schöpferischen Sphäre können Bill und Betty ihre Masken ablegen, sich zeigen als jene, die sie wirklich sein wollen. Daniels und Allen spielen diese Momente der Annäherung und Neuentdeckung voller Zärtlichkeit und Verletzlichkeit. In den sehnsuchtsvollen Blicken, die sie sich unsicher zuwerfen, verwirklicht sich die Prämisse des Filmes, auf einer ganz konkreten, menschlichen Ebene von Veränderung zu erzählen; vor allem vom Mut, den es braucht, sie herbeizuführen und mit ihr umzugehen. 

Make Pleasantville Great Again!

Andere reagieren auf die Veränderungen Pleasantvilles mit Abwehr und Abwertung – mit neuen Regelwerken und Verhaltenscodes, mit Bücherverbrennungen und Einschüchterung. Im Bürgermeister Big Bob (J.T. Walsh) verkörpern sich die regressiven Abwehrhaltungen der Arrivierten und Mächtigen. Den simplen, überzeichneten Antagonisten bringt Walsh in nur wenigen, effektiven Einzelszenen auf den Punkt, etwa wenn ein Kunde beim Friseur den plötzlich eintretenden Bürgermeister seinen Platz anbietet und dieser, schon während er sich setzt, gönnerhaft antwortet: „Ich kann doch unmöglich deinen Platz einnehmen“ – höfliche Worte, begleitet von Gesten selbstverständlich gewordener Macht.

Das letzte Refugium der weißen Herren, die in der Kleinstadt einst den Ton angaben, bildet das Bowlingcenter, wo Bettys Ehemann George seinen Leidensgenossen die plötzliche Wandlung seiner Ehefrau beklagt (kein Essen auf dem Tisch, nicht mal was Vorbereitetes im Ofen!) William H. Macy spielt diesen George brillant: patriarchale Gesten der Selbstbehauptung sind bei ihm nur mühsam draufgeschaffte Mimikry, im Grunde ist jedem seiner Blicke eine tiefe Verunsicherung vor den Zeichen der Zeit eingeschrieben. Der Film gibt diese Figur bei alledem nicht der Lächerlichkeit preis, sondern zeigt sie in ihrer ganzen menschlichen Hilflosigkeit.

Die Grenzen der Metapher

Die Details der Welt und damit der genialen Prämisse des Filmes, sind bei alledem nicht immer klar. Woher wissen die Bewohner Pleasantvilles was Farben sind, wenn sie nie welche gesehen haben? Was dachten sie, wofür Bücher gut waren, als diese bloß aus weißen Seiten bestanden? Der Film begibt sich zudem in einen Widerspruch, wenn er im dramatischen Höhepunkt im Gerichtssaal erst davon erzählt, dass das Leben nicht immer nur pleasant sein kann, aber zugleich in einem alle Konflikte auflösenden Happy Ending gipfelt.

Einige der Konfliktfelder, Bettys Affäre mit Bill etwa, werden darum bewusst offengelassen. Auch ließe sich darüber diskutieren, ob es der Botschaft des Filmes nicht zuträglicher wäre, wenn dessen Cast diverser wäre. Natürlich ist das Thema Rassismus bereits durch die Farbmetapher implizit, dennoch wird die Existenz anderer ethnischer, sexueller oder ökonomischer Identitäten nicht konkret aufgenommen.

Das revolutionäre Subjekt

Heute würde ein solcher Film also sicherlich anders aussehen. Auch das gehört zum Umgang mit Veränderung dazu: zu akzeptieren, wie es einmal war, ohne es zu beschönigen, aber auch, ohne es zu dämonisieren. Der Film selbst pflegt ein erstaunlich differenziertes Verhältnis zur Vergangenheit. Davids Schwester Jennifer (Reese Witherspoon) entdeckt in der entschleunigten, medial entschlackten Welt von Pleasantville beispielsweise die stille Freude des Lesens für sich.

Überhaupt spielen Bücher, zumindest auf einer formalen Ebene, eine große Rolle in der Revolution der Kleinstadt. Sie bilden das Medium der Veränderung. Sie sprengen die inneren Grenzen jener Menschen, die schließlich zum revolutionären Subjekt heranreifen und die Veränderung herbeiführen. Die einzige Konstante, so erkennen sie, ist die Veränderung. So wie das Farbfernsehen nicht aufgehalten werden konnte, so wie der Tonfilm vor ihm, können auch soziale Bewegungen nicht aufgehalten werden, wenn sie wirklich aus der Mitte der Gesellschaft erwachsen. Denn wie stellte schon die unsterbliche Joni Mitchell lakonisch fest:

„Well something’s lost, but something’s gained.”


Headerbild und Galerien: © New Line Cinema