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Magazin für Filmkritik

Kurzer Jahresrückblick 2023

Katastrophen des Kinojahres

The Whale
von Darren Aronofsky

Als Fraser in seinem Fatsuit die Fressattacke überkommt, konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. The Whale ist Mitleidskino für die letzte Reihe, der jede Emotion aufdringlich vorgemacht werden muss, damit sie weiß, was sie zu fühlen hat. Dass es für Frasers mitleidigen Hundeblick den Schauspieloscar und für das Sofakissen unterm Shirt einen Make-up-Oscar gab, spricht Bände über die Befindlichkeiten der Academy. Ausnahmslos jede Szene fühlt sich so an, als sei sie einzig und allein für das Highlight-Reel der Preisverleihung gedreht worden. Da darf man sich dann ganz betroffen fühlen und über die „brave performance“ schwadronieren, ohne auch nur einen fruchtbaren Gedanken fassen zu müssen.

Old Dads
von Bill Burr

Ausnahmslos jede Scheißfigur in diesem unaufrichtigen Scheißfilm dient dazu, Bill Burrs Arschlochverhalten zu rechtfertigen. Old Dads simuliert andauernd Debattenbeiträge zu tagesaktuellen Streitthemen und baut doch nur eine Strohpuppe nach der anderen. Der Film interessiert sich nicht wirklich für die Themen, die er anreißt, sondern will in erster Linie recht behalten. Veganer, hippe Millennial-Start-Upper, männerhassende Schulleiterinnen – allesamt Karikaturen, über die Burr sein Bild von der gegenwärtigen US-amerikanischen Mittelschicht repräsentiert und sich in jedem Vorurteil, das er seit zehn Jahren auf der Bühne herumkrakeelt, bestätigen darf. Filmisch gibt es hierbei ebenfalls nichts zu holen – alles ist hässlich ausgeleuchtet, flach gefilmt und mit dem absoluten Opa-Soundtrack unterlegt. Netflix-Kino am Tiefpunkt.  

Saltburn
von Emerald Fennell

Wenn man seinem Publikum wirklich gar nichts mehr zutraut, dreht man Filme wie Saltburn. Und wenn man vom Kino wirklich gar nichts mehr erwartet, feiert man Filme wie Saltburn. Dieser Film ist gähnende Leere, eine Aneinanderreihung von hübschen Bildern, die sich aber nie zu einem filmischen Fluss verschmelzen. Das mag für ein paar nette Screenshots für Tumblr genügen, hat aber nur wenig mit einem guten Film gemein. Dabei ist Saltburn auch nicht avantgardistisch, wie man es womöglich einem Neon Demon unterstellen könnte, sondern einfach nur ermüdend (und vermeintlich) transgressiv. Fennell erweist sich einmal mehr als Edgelord, dreht die Lautstärkeregler hoch und hat doch rein gar nichts zu erzählen, das über #EatTheRich hinausgeht. Die finalen „Enthüllungen“ und ein Blick auf die breite, positive Rezeption von Saltburn lassen einen dann endgültig vom Glauben abfallen.

Perlen des Kinojahres

Master Gardener
von Paul Schrader

Schrader wird nie müde, die großen Fragen zu stellen. Er blickt nach wie vor neugierig, wissbegierig und fasziniert auf unsere Welt und vor allem die Menschen, die sie bevölkern. Biografien der Brüche stehen im Zentrum seiner „Man-in-a-Room”-Trilogie. Menschen, denen die Vergangenheit dicht auf den Fersen ist, die aber allesamt einsehen müssen, dass sie sich selbst nicht entkommen können. Zugleich stellt Schrader seinem Publikum die unbequeme Frage, was es bereit ist, zu verzeihen. Der Garten ist die gleichermaßen ambivalente wie fruchtbare Metapher, die er sich zur Beantwortung dieser Fragen gewählt hat. Aufbau und Zerfall, Werden und Vergehen, endlose Zyklen fallen hier zusammen. Was siehst du in diesem Bild? Eine tröstende, stoische Gewissheit? Oder doch die existenzielle Sinnlosigkeit?

Leave the World Behind
von Sam Esmail

Kann man blöd finden und ist sicher maximal bedeutungsschwanger aufgezogen, aber hier habe ich endlich mal wieder das Gefühl, mich in die Hände eines talentierten und vor allem neugierigen Filmemachers zu begeben. Da muss nicht jeder Ton und jedes Bild sitzen und da dürfen auch mal die Drehbuchseiten rascheln, wenn dafür jeder einzelnen Einstellung dieses durchweg spannenden Langfilmdebüts die Dringlichkeit aus jedem Bildpunkt platzt. Esmail hat was zu erzählen und vor allem zu zeigen: merkwürdige Waldbewohner, eine schwerelose, rotierende Kamera, kippende Einstellungen einer kippenden Welt, eine hadernde, misantrope Julia Roberts und einen nichtsnutzigen Ethan Hawke. Dieser fasst die Lage des bunten Figurenarsenals am besten zusammen: „I can barely do anything without my cell phone and my GPS. I am a useless man.” Das fühl ich, Bruder, das fühl ich.

Snoopy Presents: One-of-a-Kind Marcie
von Raymond S. Persi

Ein Peanuts-Film bildet mein Animationshighlight dieses Jahres. Persi hat immer wieder treffende visuelle Einfälle, die die hypersensible Weltwahrnehmung von Marcie sinnlich erfahrbar machen. Wir verstehen diese Figur, weil wir die Gelegenheit bekommen, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Der Film schafft Verständnis für ihren Charakter und ihre finale Entscheidung, ohne sich in abgehangenen Steh-zu-dir-selbst-Plädoyers zu ergehen. Am Ende ihrer Selbstsuche weiß Marcie nicht bloß, wer sie ist und was sie will, sondern vor allem, was sie nicht will. Als jemand, der sich charakterlich auch eher auf dem Spektrum der Introversion verorten würde, war es erfrischend eine Figur zu sehen, die sich für ein geglücktes Finale mal nicht zur extrovertierten Rednerin wandeln musste, um von ihren Mitschülern anerkannt zu werden. Marcie vollzieht keine charakterliche Kehrtwende, bleibt im Grunde immer dieselbe und ist am Ende des Filmes paradoxerweise doch eine andere, weil sie gelernt hat, sich und ihre Fähigkeiten neu zu bewerten.

Tár
von Todd Field

Streberkino, meinetwegen. Aber die Mühen müssen belohnt werden. Todd Field beweist nach In the Bedroom und Little Children erneut eindrucksvoll, dass eine klare, distanzierte Inszenierung nicht mit einer ebenso distanzierten Rezeptionserfahrung einhergehen muss. Denn in den klar kadrierten Einstellungen rumort es, bis die Begrenzungen des Bildes zu platzen drohen. Der Naturgewalt Lydia Tár, gespielt von der Naturgewalt Cate Blanchett, muss sich Field zwangsweise aus der Entfernung nähern, um sich an ihr nicht die Finger zu verbrennen. Er beobachtet sie aus sicherer Distanz, nur um sich tastend, sukzessive zu nähern. Und wenn er ihr nahegekommen ist, möchte man sich als Zuschauer am liebsten wieder von dieser komplizierten, toxischen Hauptfigur abwenden. Streberkino, das unbedingt aus der ersten Reihe gesehen werden sollte und bei mir das aufregende Gefühl hinterlässt, beim ersten Mal noch lange nicht alles verstanden zu haben.

Honourable Mentions:
Pearl von Ti West
Infinity Pool von Brandon Cronenberg
Past Lives von Celine Song
The Banshees of Inisherin von Martin McDonagh
Spider-Man: Across the Spider-Verse von Joaquim Dos Santos, Justin K. Thompson & Kemp Powers

*Headerbild: Y. Chaki, The Four Seasons, Öl auf Leinwand, 335cm x 670cm, 1988: Royal Bank of Canada