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Magazin für Filmkritik

Liebesbrief an die zweite Reihe – „Snoopy präsentiert: Keine ist wie Marcie“

Ein ganzer, halber Film über Marcie? Die Marcie? Diese obskure Nebenfigur, die den Peanuts stets mit klugem Rat zur Seite steht, ansonsten aber hinter dicken Brillengläsern und den Seiten eines dicken Buches verschwindet? Keine ist wie Marcie ist genau das. Ein TV-Special über eine Nebenfigur, die plötzlich zur Hauptfigur wird, über eine Introvertierte, die plötzlich im Mittelpunkt steht. Diese Marcie ist eine Leseratte, äußerst klug, aber auch äußerst schüchtern und – nicht zu vergessen – ein absoluter Weltklasse-Caddie! Marcie soll neue Schulsprecherin werden, denn sie hat viele gute Ideen zur Verbesserung der Schule, aber sie hat auch wahnsinnige Angst davor, vor großen Menschenmengen zu sprechen.

Keine ist wie Marcie ist zu einem triumphalen Liebesbrief an die Nebenfiguren des Fernsehens geworden und bildet den nunmehr fünfzigsten Eintrag in die seit den 1960er-Jahren erscheinenden Peanuts-Specials, die ihren Fokus auch immer wieder auf jene Peanuts richten, die neben Charlie Brown und dessen Hund Snoopy diese melancholisch flirrende Cartoonwelt bevölkern. Den Charakter von Marcie führte Charles M. Schulz zuerst 1971 namentlich in den Peanuts-Kosmos ein, obwohl bereits seit 1968 eine ähnlich aussehende Figur mit dem Namen Clara in einzelnen Panels auftauchte. Marcie folgte somit ganze 25 Jahre nachdem Charlie Brown und Snoopy im wöchentlichen Comicstrip Li‘l Folks ihr Debüt feierten. Die Story rund um die introvertierte Nebenfigur wurde von Craig und Bryan Schulz entworfen, Sohn respektive Enkel des Peanuts-Schöpfers. Das Drehbuch stammt von Betsy Walters, welche unter anderem für Die Snoopy Show als Autorin tätig ist.  

Introversion als Stärke

Marcie ist selbstlos und hilfsbereit – manchmal vielleicht zu selbstlos und zu hilfsbereit. Sie denkt immer zuerst an andere und zuletzt an sich. Sie ist ein Teamplayer, uneigennützig darin, ihr Wissen und ihre Ideen für die Gemeinschaft einzubringen. Aber es mangelt ihr an Durchsetzungswillen, den ihre Freundin Peppermint Patty, der sportliche Tomboy, den sie andauernd mit „Sir“ anredet, dafür im Übermaß besitzt. So wie Charlie Brown nie allein war, sondern immer Bestandteil des Mikrokosmos Peanuts, in dem er sich den Rat seiner Freunde einholte, ist auch Marcie in den Peanuts-Kosmos eingebunden. Und in diesem Kosmos hat jeder seine Stärken und Schwächen, die über Zusammenarbeit genutzt oder ausgeglichen werden können.

With those specials we went back to the strip and looked at the line weight. We picked an era, maybe early-mid or late ’70s, and looked to recreate the line weight of Charles Schulz’s pen line. A lot of work was done to get that line feel, to let the line have this sort of wiggle to it, so it felt more hand-drawn.

Raymond S. Persi (Animation World Network)

Der schlichte Animationsstil und der abwechslungsreiche Jazz-Score (von Jeff Morrow, inspiriert von Peanuts-Stammkomponist Vince Guaraldi) sind elegant und zeitlos. Anders als beim 2015 erschienen Peanuts-Kinofilm oder beim Löwenanteil der TV-Specials setzt man bei Keine ist wie Marcie auf digitale, handgezeichnet anmutende 2-D-Animationen. Klare Konturen und dicke Linien kennzeichnen den prägnanten und ökonomischen Schulz-Stil. Der Fokus ist stets auf die Figuren im Vordergrund gerichtet, während die impressionistischen Hintergründe bisweilen wie Wasserfarben in die Unschärfe kippen. Doch die Macher um Regisseur Raymond S. Persi finden auch immer wieder dynamische, surreale Einschübe, die die Innenwelt von Marcie visuell repräsentieren – von hoch aufragenden, bedrohlich verzerrten Menschenmassen, die auf die schüchterne Marcie einreden bis zu Fischschwärmen als Repräsentationen des chaotischen Schulflurverkehrs.

Persi hat immer wieder treffende visuelle Einfälle, die die hypersensible Weltwahrnehmung von Marcie sinnlich erfahrbar machen. Wir verstehen diese Figur, weil wir die Gelegenheit bekommen, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Der Film schafft Verständnis für ihren Charakter und ihre finale Entscheidung, ohne sich in abgehangenen Steh-zu-dir-selbst-Plädoyers zu ergehen. Am Ende ihrer Selbstsuche weiß Marcie nicht bloß, wer sie ist und was sie will, sondern vor allem, was sie nicht will. Als jemand, der sich charakterlich auch eher auf dem Spektrum der Introversion verorten würde, war es erfrischend eine Figur zu sehen, die sich für ein geglücktes Finale mal nicht zur extrovertierten Rednerin wandeln musste, um von ihren Mitschülern anerkannt zu werden. Marcie vollzieht keine charakterliche Kehrtwende, bleibt im Grunde immer dieselbe und ist am Ende des Filmes paradoxerweise doch eine andere, weil sie gelernt hat, sich und ihre Fähigkeiten neu zu bewerten.

You once told me you were an invertebrate. (Peppermint Patty)

I think you mean “introvert”, sir. (Marcie)

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