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Magazin für Filmkritik

Paradoxie des Verweilens – Ein Wiedersehen mit „Before Sunset“

Before Sunset

Als ich „Before Sunset“ im Teenager-Alter das erste Mal gesehen habe, da wusste ich den Film höchstens als notwendigen Auftakt für den dritten Film der Reihe zu schätzen. Als ein unfertig wirkendes Zwischenspiel, das weder die Spannung des ersten Kennenlernens, noch den Ernst und die Dramatik lange gereifter Beziehungsprobleme aufgreifen kann; mit seiner Laufzeit von gerade mal 77 Minuten viel zu kurz, um wirklich in die Tiefe gehen. Ein ersehntes Wiedersehen, das die offen gebliebenen Fragen des ersten Films zwar beantwortet, immer wieder auf die Nacht in Wien zurückweist, aber keinen eigenen thematischen Beitrag leistet. Alles in Allem: eine nette Fortsetzung.

Ganz anders bei der Zweitsichtung. Vielleicht brauchte der Film, dessen Inhalt das Wiedersehen ist, selbst ein Wiedersehen als eine zweite Betrachtung, um mir seine eigentlichen Qualitäten zu offenbaren. Meine damalige Enttäuschung über die kurze Laufzeit hat sich zur Euphorie gewandelt. Der Film muss unfertig und abgeschnitten wirken, da er ja genau dieses Gefühl zum Thema hat. Die Zeit läuft. Von Anfang an ist klar: Jesse muss seinen Flieger bekommen, seinen Verpflichtungen nachkommen. Celine versucht ihn auf Abstand zu halten, um keine alten Wunden aufzureißen, keine Erinnerungen an verpasste Chancen heraufzubeschwören. Als soziale Masken begegnen sich die Beiden. Es wird offen über Sex geredet (als Erwachsene brauchen sie das erotische Versteckspiel aus jungen Jahren nicht mehr), eine echte emotionale Intimität aber bleibt zunächst aus. Und so schreit alles im Fortschreiten des Films danach, die aufregende Intimität der Wiener Nacht – entgegen der rufenden Verpflichtungen – wiederherzustellen; anzuknüpfen an die Sehnsucht-getränkten Versprechungen des Abschieds am Bahnhof in Wien.

Der Film ist das Gegenteil von Meditation und Kontemplation, wenn man darunter einen still gewordenen Geist ohne Ziel und Begierde versteht. Obwohl er um seine Verpflichtungen weiß, lässt sich Jesse tief in Celines Sofa hinabsinken. Sein Körper spricht Verweilen! Die Begierde ist aber nicht ausgeschaltet, sondern richtet sich auf den Moment selbst. Könnte man doch den Fluss des Lebens für einen Augenblick anhalten!

Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.

Rainer Maria Rilke

Die Verpflichtungen vergessen, sich ins Geschehen werfen und kein Wohin mehr zu kennen: darin mündet der Film. Wo ein meditatives Verweilen die Leere sucht, wollen die sich Verliebenden dagegen die Zeit anhalten. Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt in seinem Essay Duft der Zeit über die „gute Zeit“: „Gerade die Leere des Geistes, die diesen vom Begehren befreit, vertieft die Zeit. […] Es ist das Begehren selbst, das die Zeit radikal vergänglich macht, indem es den Geist fortstürzen läßt. Wo er still steht, wo er in sich ruht, entsteht die gute Zeit.“ Irgendwie ist da etwas Wahres dran … Aber möglicherweise ist die Paradoxie des Verweilens, dass in ihr einerseits das Begehren stillgestellt ist, andererseits nichts als das Begehren selbst übrigbleibt.

Jesse und Celine wollen nichts Bestimmtes mehr, wenn sie den Moment – so, wie er ist – wollen und nichts außerdem.

Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.

Friedrich Nietzsche

Wo der Film mich einst zerstreut und unbefriedigt zurückgelassen hat, konnte ich jetzt mein ungestilltes Begehren ob der Kürze und Unvollständigkeit des Films als sein eigentliches Anliegen erkennen. Das Anliegen letztlich, aus einem Augenblick seine Ewigkeit zu befreien.

Headerbild und Galeriebilder: © Warner Bros (Universal Pictures)