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Magazin für Filmkritik

Recht der Gefühle – „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet

Snapshot des Films Anatomie eines Falls

Was ist wirklich geschehen? Was ist die Wahrheit? Wer hat Recht? Wer ist im Recht? Wer ist zu dem, was er oder sie ist und fühlt, berechtigt? Eine Kette von Fragen, die von der sachlichen Wahrheitsermittlung ausgehend bei der Ergründung von Gefühlen angelangen. Von der objektiven Tatsache zur subjektiven Empfindung. Das ist auch die Dramaturgie des Oscarnominierten „Anatomie eines Falls“.

Ein Mann, aus dem Fenster gestürzt, stirbt. Sein erblindeter Sohn findet ihn. Die Frau des Verstorbenen steht unter Tatverdacht. Einige wage Indizien sprechen gegen Selbstmord. Es folgt ein Gerichtsprozess, der zunächst den Tathergang, darauffolgend die Beziehung des Paares seziert. Das alles wird beobachtend verfolgt vom Sohn, der nicht bloß als Außenstehender an sachlicher Gerechtigkeit interessiert ist, sondern ein genuin emotionales Interesse an der Aufklärung der Tat hat. Wer ist und was fühlt seine Mutter wirklich? Welches Verhältnis hatte sie zu ihrem Mann?

„Anatomie eines Falls“, in vielerlei Hinsicht übrigens ein Meisterwerk, verhandelt die Frage nach zwischenmenschlicher Gerechtigkeit im Kern. Wie lässt sich Freude und Leid gegeneinander aufwiegen? Was sind sich die Beziehungsführenden einander schuldig? Ist die Frau ihrem Mann – der sich nicht verwirklichen kann, sich stets als Gescheiterter empfindet – irgendetwas schuldig? Bei solchen Fragen scheitert jedes rationale Gegeneinander aufwiegen. Es geht dann um komplexe emotionale Vorgänge. Deren Nachvollzug eine Verurteilung sowieso schon schwierig macht. Wenn wir Menschen und ihre Handlungen, besonders innerhalb ihres gesamten Beziehungsgeflechts, anschauen, dann sehen wir oft, dass jeder Handlung auch eine Geschichte von aufeinander aufbauenden Gefühlen vorausgegangen ist. Dass die Handlung schließlich nur die Entladung der sie vorbereitenden Gefühle war. Aber hieran stößt sich das Recht. Zumindest jenes das auf Tatsachen beruht. Der Sohn, der passend zu seiner Erblindung, die mythische Figur des Sehers verkörpert, überschaut nicht bloß den Tathergang, sondern – mit herausragendem Feingefühl, mit der intuitiven Einsicht des Kindes – die Gesamtheit der emotionalen Vorbedingungen der am Ende stehenden Handlung:

„Ich glaube, wenn uns Informationen fehlen, um sicher zu sein, wie sich etwas abgespielt hat, dann müssen wir woanders suchen. Das tun Sie in diesem Prozess. Wenn man überall gesucht hat, aber trotzdem nicht weiß, wie genau es passiert ist, dann muss man sich fragen, wieso es passiert ist.“

Wir sehen in klaren Grenzlinien, starren Objekten und Strukturen. Was wir mit eigenen Augen sehen, ist Wahrheit und Wirklichkeit. Was wir Hören, ist viel verschwommener. Alleine schon die Begriffe zur Beschreibung und Feststellung von Gehörtem sind zahlenmäßig denen des Gesehenen bei weitem unterlegen. Wie lassen sich die Nuancen im Ton deutlich beschreiben, die ein Gespräch von einem Streit unterscheiden? Gibt es hier überhaupt so etwas wie Exaktheit?

„Anatomie eines Falls“ zeichnet das Bild einer Verschiebung des Rechts: von einem Recht, das auf der Ergründung von Tatsachen beruht, zu einem Recht, das auf der Ergründung von Motivationen beruht. Von Fakten zu Gefühlen. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich auch im Klavierspiel des Sohns. Zunächst spielt er in aufgeregtem Tempo ein relativ komplexes Stück in Staccato. Die Töne sind klar voneinander getrennt. Gefragt ist Geschick und Koordination der Finger. Am Ende, direkt vor seiner Aussage vor Gericht, spielt er in größtmöglicher Vereinfachung ein Stück von Chopin. Jede Note wird emphatisch gespielt. Kein Spiel des Geschicks, sondern eines der Gefühle. Passend zur Verschiebung des Rechts, dass auf Tatsachen beruht, zu einem Recht, dass Gefühle berücksichtigt, kann sich die Frau über ihren Freispruch nicht wirklich freuen. Ein richterlicher Entschluss ändern nun mal nichts an der Geschichte der vorangegangen Emotionen.

Der Film wirft noch viele weitere Fragen auf, ist in seiner feinsinnig kalkulierten Inszenierung ein Schöpfbrunnen für Entdeckungen und stellt in seiner Verbindung von Recht und Psychologie einen Ausgang für weitere Debatten dar. Debatten, die sich in unserer sensibler werdenden Gesellschaft bei der Bemühung um Fairness unweigerlich auftun werden.


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