Spuren von Gewalt – „Adolescence“ von Jack Thorne und Stephen Graham

Vier Episoden, vier One-Shots, die den Ursprüngen männlicher Gewalt nachzuspüren versuchen. Vier Versuche einer Erklärung dessen, was nicht restlos geklärt werden kann. Vier Räume der Gesellschaft, in denen Bruchstücke einer Antwort verborgen liegen. Die Engländer machen vor, welch immenses Potenzial im ausgelutschten und tot-gesendeten Krimiformat liegt, wenn man bereit ist, die richtigen Fragen zu stellen. Neben den richtigen Fragen findet Adolescence auch zu einer reizvollen ästhetischen Form; eine Form, deren Vorzüge (Unmittelbarkeit) seine Unzulänglichkeiten (Längen) klar überbietet. Hätte man dieselbe Geschichte auch mit Schnitten erzählen können? Sicherlich, so wie man Burger auch ohne Patty essen kann. Aber es hätte etwas gefehlt.
Zum Beispiel das Kopfkino, das sich von den verwirrten und verängstigen Eltern direkt auf den Zuschauer überträgt. Die penible Darstellung polizeilicher Prozedere intensiviert diese Anspannung zusätzlich. Episode 1 ist ein Warteraum für Eltern und Zuschauer gleichermaßen. Was ist hier eigentlich los? Was wird dem Jungen vorgeworfen? Hat er es getan? Die beachtlichen Darstellerleistungen, allen voran von Serienschöpfer Stephen Graham und Nachwuchstalent Owen Cooper als Vater-Sohn-Gespann, tragen diese erste Episode maßgeblich auf ihren Schultern und vermitteln glaubwürdig den emotionalen Ausnahmezustand ihrer Figuren. Dem gegenüber steht die routinierte Professionalität der Polizeibeamten, die stoisch dem Protokollarien folgen. Daraus ergibt sich ein reizvoller Kontrast zwischen der formalen Rigidität der Machart und der emotionalen Fallhöhe der Geschichte, die sich mit dem finalen Verhör in all ihrer niederschmetternden Eindeutigkeit entlädt.



Erklärungsversuche
Die restlichen Episoden führen diese Linie weiter. So wie der Polizei bleiben auch uns nur Spuren der Gewalt, die sich in einer unheilvollen Nacht entladen hat, unzureichende Rückbetrachtungen im Lichte eines Danach. Keine Rückblenden erlösen uns aus der Ungewissheit, indem sie uns personifizierte Niedertracht präsentieren oder entschuldbare Umstände; einen prügelnden Vater etwa oder eine abwesende Mutter. Stattdessen gibt es Erklärungsversuche, Beweisstücke, Zeugenaussagen, die sich zu einem unvollständigen Bild zusammensetzen, aber immerhin einem Bild. Das klarste Bild erhält man noch in Episode 3, wenn Jamie (Cooper) einer Psychologin gegenübersitzt (Erin Doherty) und uns das Gespräch, das bei lockerem Small Talk beginnt, bis in die dunkelsten Ecken einer verstörten Psyche entführt. Aber auch hier gibt es keine Küchenpsychologie, keine Schnellschlüsse, sondern nur ein aufrichtiges Erkenntnisinteresse, eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit einem individuellen Fall, der auch immer wieder seine gesellschaftlichen Dimensionen andeutet.
Dimensionen, der die letzte Episode in der Familie nachspürt und in den Untiefen der Schuld von Eltern, die sich fragen, wie sie so jemanden gezeugt haben können und die sich dann an ihre liebe, unterstützende Tochter erinnern, die sie auch gezeugt haben; die die Dissonanzen dieses Befundes nicht auflösen können und die selber nie zu einem ganzen Bild finden, das erklären könnte, warum passiert ist, was passiert ist. Es gibt nur lose Eindrücke und Erinnerungen … ein Junge, der bis tief in die Nacht am PC sitzt, ein Instagram-Kanal mit Bildern von Models, Bilder von Männlichkeit, Kommentare als kodiertes Mobbing … und eine heiße Wut, die jeden Augenblick die Oberfläche sprengen könnte. Unsicherheiten des Erwachsenwerdens, die sich pathologisch verdichtet haben; zu Projektionen führten. Minderwertigkeitsgefühle, die sich veräußerlicht haben, entladen in einem Akt der Gewalt.
Aber: dieser Akt war weder Zufall noch Unfall. Es gibt Muster von Verhalten. Bedingungen von Gewalt, Faktoren ihrer Beeinflussung. Schulen mit überforderten Lehrern, fehlende Empathie, fehlendes Problembewusstsein, zu viel weggeschaut, alleingelassen mit den Dopamin-Maschinen des Netzes, mit Männlichkeitsbildern, die von Dominanz und Unterwerfung schwafeln, von Simps und Alphas, von roten Pillen und der Wahrheit. Auch meine Worte sind nur Fragment, Bruchstücke einer Erklärung. Doch Adolescence hat einen wichtigen, ersten Schritt gemacht, indem die Macher die richtigen Fragen stellen.
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