Bildsucht

Magazin für Filmkritik

Viele Welten in unserer Welt – „Perfect Days“ von Wim Wenders

Perfect Days Wim Wenders 2023

Wie Und täglich grüßt das Murmeltier, aber frei gewählt. Hirayamas Leben mutet wie eine endlose Wiederholung der gleichen Abläufe an. Bis in die kleinteiligen Bewegungen hinein ist alles routiniert. Unvorhergesehene Abweichungen werden schnell wieder vom Kreislauf des routinierten Tagesablaufs abgefangen. Was wie ein selbst geschaffenes Gefängnis eines Neurotikers klingt, ist in Wirklichkeit die Lebensgestaltung eines auf größtmögliche Freiheit bedachten Menschen.

Freiheit durch Routine

Morgen, übermorgen und jeden folgenden Tag so ziemlich das gleiche zu tun wie heute, hört sich langweilig an. Die Monotonie als auferlegte Abhängigkeit. So hat sich Hirayama, die Hauptfigur in Wim Wenders Ende 2023 erschienenen Perfect Days, sein Leben eingerichtet. Minutiös begleitet die Kamera Hirayama bei seinen unspektakulär erscheinenden Handlungen. Als Toilettenreiniger kümmert er sich um verschiedene Toiletten in Tokio. Seine Wohnung ist minimalistisch eingerichtet, obwohl sie mit dem sterilen Stil des Minimalismus als Einrichtungstrend so gut wie nichts gemeinsam hat. Es gibt kaum Potenzial für Ablenkung. Und passend zu seinem auf das wesentliche runtergebrochenen Lebensstil ist sein Schweigen. Nur, wenn es wirklich notwendig ist, spricht Hirayama. Also sehr selten.

Was hat das mit Freiheit zu tun? Als Kinozuschauer merken wir bereits bei der zweiten Wiederholung der Tagesabläufe, spätestens bei der dritten, dass sich durch die Routine gewisse Freiheitsräume auftun. Dadurch, dass die Handlungen des Tages bereits vorgezeichnet sind, bleibt Zeit zur Reflexion und innehaltenden Anschauung. Hirayama beobachtet Lichtspiele auf Wänden, fotografiert die sich im Wind wiegenden Baumkronen, genießt die kleinen Begegnungen mit Menschen, die in seinem Universum eine ganz andere Bedeutung bekommen. Der Modebegriff dafür ist „Achtsamkeit“. Aber ähnlich wie mit der minimalistischen Einrichtung wird auch hier klar: Hirayama will sich nicht durch ein trügerisches Label wie „Minimalismus“ oder „Achtsamkeit“ Glück erkaufen, oder irgendwem glücklich erscheinen, sondern seine Lebensweise entsteht ganz natürlich aus ihm selbst heraus.

Viele Welten

Durch seine individualistische Herangehensweise an das Problem der Lebensführung findet Hirayama sein persönliches Glück. Das sehen wir an seinen Gesichtszügen. Ein Lächeln, das aus tiefer innerer Gewissheit, Ausgeglichenheit und Zufriedenheit schöpft. Kein Grinsen als Impulsreaktion, sondern ein ganz persönliches Aufsteigen von Lebensfreude aus der eigenen Kraft und Mitte heraus. Das führt aber auch dazu, dass die Abgeschiedenheit und Einsamkeit seines Universums deutlicher zutage tritt als in der Durchschnittsgesellschaft (insofern es die überhaupt gibt). Er hat den sozialen Wertekatalog hinter sich gelassen. Die Anhäufung von Besitz, Reisen auf andere Kontinente, Expansion, das Hinterherjagen nach einem romantischen Ideal, sich interessant machen, im Grunde alle Kategorien des sozialen Vergleichs, hat Hirayama aus seinem Leben ausgeschlossen. Es ist gänzlich intrinsisch motiviert. Das führt aber auch dazu, dass Hirayama der sozialen Sphäre entrückt ist, ja sogar weitestgehend auf den Gebrauch der Alltagssprache verzichten muss, weil diese den normierten Wertekatalog der Gesellschaft stetig reproduziert. Er lebt in seiner eigenen Welt.

Irgendwo im Film erklärt Hirayama seiner Nichte, dass es „viele Welten in unserer Welt“ gibt, um ihr zu verdeutlichen, warum er und seine Schwester ein so distanziertes Verhältnis zueinander haben. Die Nichte versteht das. Sie ist jung und noch nicht ganz überformt vom gesellschaftlichen Wertekatalog. Wenn wir jung sind, ist ganz klar, dass es da draußen viele Welten gibt und dass ein kleiner unspektakulärer Alltag riesig ist, dass in einer kurzen zwischenmenschlichen Begegnung Welten aufeinandertreffen.

Die Balance zwischen Anschauung und Eingebundensein

Mir persönlich tendiert der Film und auch Hirayamas Art der Lebensführung ein wenig zu sehr in Richtung „Reflexion“. Durch die Routine und deren filmische Abbildung entsteht zwar eine Freiheit, die zur achtsameren Anschauung der Ereignisse führt, dabei bleibt aber das impulsive Eingebundensein in die unvorhersagbaren Geschehnisse der „vielen Welten“ auf der Strecke. Nicht umsonst brilliert der Film vor allem durch seine fotografisch anmutende visuelle Qualität. Darin bringt er es zur Meisterschaft. Reflexion, Anschauung und Innehalten hängen nicht nur im Wortsinn stark mit der Distanznahme des Sehsinns zusammen. Aber die Dimension des Lebens, in der wir vollkommen aufgesogen sind von den Ereignissen, erscheint mit genauso wertvoll wie die Zeiten der Distanznahme.

Kontrollverlust, impulsive Taten, die wir vielleicht irgendwann mal bereuen werden, leichtgläubig sein und für eine einfache Tatsache des Lebens tausende unnötige Wörter gebrauchen, die wie sinnloses Gebrabbel daherkommen. Das hat auch was mit Hingabe und Loslassen zu tun, und ist dem Hör- und Tastsinn näher verwandt. Unsere Augen können wir schließen, unsere Ohren nicht. Hirayama kontrolliert genauestens, wann, wo und welche Musik er hört. Es wirkt, als höre er sie im Zeichen innerer Anschauung. Dabei kann Musik einen auch überraschen und überwältigen, vielleicht sogar alle Mauern und Kontrollmechanismen niederreißen und den Körper ganz in Beschlag nehmen, der dann als Leib mit allen organischen und unverfügbaren Prozessen der Welt in Verbindung steht. Einfacher ausgedrückt: eine Musik, die einen zum Tanzen bringt. Vielleicht auch ein Lächeln, dass keine Reaktion auf die eigene innere Zufriedenheit ist, sondern auf die schönen Worte, die jemand an mich richtet. Worte, die ich nicht wie in einem Buch rezipiere oder übersetze, sondern die ganz einfach direkt an mich gerichtet sind, eben mit jener mühelosen Absicht, mich zum Lächeln zu bringen.

Als einen Film der Anschauung habe ich Perfect Days genossen und ich denke zum Jahresstart kann eine Dosis „Innehalten“ sowieso nur gut tun. Aber dennoch würde ich zum Schluss – um auch hier nicht zu sehr die Balance zu verlieren – Babylon von Damien Chazelle als Ausgleich empfehlen. Oder irgendeinen anderen Film von Chazelle, dessen Werk im Zeichen des Hörsinns und der Musik steht.

Headerbild und Galerie: © DCM / 2023 Master Mind Ltd