„Werd‘ endlich erwachsen!“ – über Jugendfilme und zeitlose Gefühle
Ich liebe Coming-of-Age-Filme. Ich schaue sie seit ich denken kann – mit ungebrochenem Enthusiasmus. Manchmal frage ich mich, warum das so ist. Die eigene Jugend, die Schul- und frühe Studienzeit, liegen in meinem Fall schließlich schon ein paar Jahre zurück. Warum also interessiere ich mich noch immer für die Sehnsüchte und Sorgen Heranwachsender; für die Lebensphase des Auf- und Ausbruchs und des gleichzeitigen Gefühls festzustecken; für die verängstigten und manchmal selbstbesoffenen Gedankenwelten des Kindes, das kein Kind mehr ist, aber vom Erwachsenendasein noch keinen Plan hat? Die Fragen eines Mitdreißigers sind doch schließlich völlig andere, die Lebenswirklichkeit eine neue. Welches Potenzial für Identifikation birgt da noch das Coming-of-Age-Genre für mich? Gar keins, oder? Um die Antwort kompliziert zu machen: Ja und Nein.
Zu alt für die Scheiße
Ja, ich bin keine Sechzehn mehr und viele der Ängste, die mich in diesem Alter geplagt haben, kann ich aus der sicheren Distanz heutiger Gewissheit belustigt abschütteln. Genauso geht es mir mit den Protagonisten aus Filmen wie Breakfast Club (1985) oder Schule (2000), deren Träume und Sorgen mich eher an meine biografische Vergangenheit erinnern als aktuelle Lebensfragen widerzuspiegeln. Darum sind solche Filme auch Nostalgiefilme, da sie an eine bestimmte Lebensphase zu einem spezifischen, kulturellen Moment erinnern. Darum werde ich melancholisch, wenn ich Filme aus den Neunzigern und frühen Zweitausendern sehe. Die Bilderwelten dieser Zeit sind aufgeladen mit Erinnerungen, manchmal lediglich mit Fragmenten und Bruchstücken eines diffusen Gefühls. Ich kann mich an die Gefühle dieser Zeit erinnern, aber ich fühle sie nicht mehr. Eine Weile dachte ich, mein ungebrochener Enthusiasmus gegenüber dem Coming-of-Age-Genre könnte darin begründet liegen, dass ich meiner eigenen Jugend nostalgisch verfangen bin; dass ich sie immer wieder nacherleben und mich an diese Zeit erinnern möchte; dass ich nicht loslassen kann. Aber das ist es nicht – nicht wirklich. Ich will nicht zurück in meine Jugend, zurück in die Unsicherheit und den sozialen Wettkampf und Integralrechnung in der sechsten Stunde.
„Keine Sorge, das ist nur eine liminale Phase!“ …
… sagte vielleicht irgendwann einmal die eine besorgte Mutter zur anderen. Liminalität bezeichnet ein Zwischen- und Übergangsstadium zwischen zwei Lebensabschnitten – der Ethnologe Victor Turner beschreibt sie auch als einen Schwellenzustand. Der Begriff ist Teil seiner Theorie von Übergangsriten, mittels derer sich Einzelne oder Gruppen rituell von vorherrschenden Sozialordnungen emanzipieren. Ein Beispiel für einen solchen Ritus ist der Abschlussball, der in vielen Teenie-Filmen den dramaturgisch-emotionalen Höhepunkt des dritten Aktes bildet. In Buffy the Vampire Slayer (1997-2001) wird der Prom zur Bühne für einen der romantischsten Momente der Serie, wenn die titelgebende Vampirjägerin (Sarah Michelle Gellar) mit ihrem Langzeit-Love-Interest Angel (David Boreanaz) zu einer Coverversion von Wild Horses tanzt. Auch der Tanz selbst markiert einen Übergang, beschließt rituell die Highschool-Zeit und läutet eine neue Ära ein, die Buffy und ihre Freunde in der vierten Staffel der Serie ins College führt. Auf dem Abschlussball sehen wir noch einmal die Gesichter derer, mit denen wir freiwillig oder unfreiwillig großgeworden sind, ehe sich die Wege (für die meisten jedenfalls) für immer trennen.
Oz: „Guys, take a moment to deal with this: we survived.“
Buffy: „Yeah, that was a hell of a battle.“
Oz: „Not the battle – Highschool.“
Turner unterscheidet insgesamt zwischen drei Stadien des Wandels: der Trennungs-, der Schwellen (liminalen) und der Angliederungsphase. Und ist die Jugend nicht ein einziger, nicht enden wollender Schwellenzustand? Das macht diese Zeit so aufregend und so stressig. Wer pubertiert ist kein Kind, aber auch kein Erwachsener. Man kommt aus der warmen Sorglosigkeit der Kindheit (wenn man Glück hatte) und fällt in die Veränderung, die man nicht aufhalten kann. Es hat etwas vom Halbmenschen des Horrorfilms, dem Werwolf etwa, der sich eines Nachts bei Vollmond verwandelt und erschrocken fragen muss, was zum Teufel mit dem eigenen Körper geschehen ist. Nicht umsonst fällt in Ginger Snaps (2000) die erste Regelblutung der Protagonistin Ginger (Katharine Isabelle) blöderweise mit dem Biss eines Werwolfs zusammen. Fortan verwandelt sich das schüchterne Mädchen sukzessive in ein sex- und fleischhungriges Monster.
Die Bildwelten des Horrorfilms eignen sich wie kaum ein anderes Genre dafür, dieses ambivalente Gefühlschaos zwischen Selbst-Entfremdung und -Entdeckung wirkungsvoll zu illustrieren. In Joachim Triers Thelma (2017) beginnt mit dem Studium der Hauptfigur ein komplizierter Abnabelungsprozess von ihren streng religiösen Eltern, der durch die Entdeckung ihrer übernatürlichen Kräfte zusätzlich verkompliziert wird. In dieser modernen Iteration von DePalmas Carrie (1976) dienen die Kräfte, ähnlich dem Werwolf-Fluch, als Verbildlichung eines radikalen Emanzipationsprozesses, der sich nicht aufhalten lässt. Stattdessen lernt Thelma (Eili Harboe) mit ihrer Andersartigkeit zu leben.
Denn mit dem Abnabelungsprozess öffnet sich auch ein unendliches Feld der Möglichkeiten, unabhängig davon, wie realistisch diese Möglichkeiten sind. Als Jugendlicher habe ich immer viele Leben in einem verfrachtet, habe mir vorgestellt, wie es wäre dieser oder jener zu sein und fand meine Vorstellungen im Kino auf attraktive Weise gespiegelt und genährt. Dieses grenzenlose Potenzialitätsdenken ist sicherlich kultur- und zeitspezifisch. Ich bin als Mann in einem reichen Land zu einer friedlichen Zeit geboren. Das ist, rein menschheitsgeschichtlich gesehen, unwahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto. Mir lagen also nicht viele Steine im Weg herum. Zugleich können unendliche Möglichkeiten lähmend sein. Die Zeit der Jugend ist für viele eine Zeit des Zweifels. Bin ich zu hässlich, zu dick, zu dünn, zu dumm fürs nächste Schuljahr, beliebt genug für diesen Jungen, dieses Mädchen? So sinnlos und lästig diese Zweifel im Rückblick erscheinen, sie enthalten eine Lektion, die wir lebendig halten sollten und die im Coming-of-Age-Genre auf fruchtbaren Boden fällt: wir werden nie einen Punkt erreichen, an dem wir abgeschlossen sind.
Du kannst dir niemals sicher sein
Leben ist permanente Veränderung. Wer den Zweifel abschafft, der hat es sich im eigenen Weltbild allzu bequem gemacht. Die Jugend ist nämlich nicht nur eine Zeit irrationaler Ängste und überbordender Erwartungen, in der wir uns vom inneren Monolog tagtäglich hypnotisieren lassen, sondern auch eine Zeit des Widerstands, des Aufstands und des produktiven Zweifels. Was ist mein Platz in der Gesellschaft? Wer bin ich? Wer will ich sein? Wer kann ich sein? Und für wen will ich es sein? War es schon immer so? Oder kann ich etwas verändern? Und wenn ja, wie kann ich etwas verändern? Wir lügen uns in die Tasche, wenn wir glauben, dass diese Fragen mit dem Ende der Pubertät passé sind. Im Gegenteil: sich die grundlegenden Fragen immer wieder neu und die Verhältnisse und sich selbst infrage zu stellen, das kommt meiner Ansicht nach dem nahe, was Erich Kästner meinte als er sagte:
Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Früher waren sie Kinder,
dann wurden sie Erwachsene,
aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.
Das ist es, was ich im Coming-of-Age-Genre suche: Veränderung als Konstante. Neuerfindung als conditio humana. Ich suche Figuren, die noch vom Wunsch nach Veränderung beseelt sind, die noch nicht gefestigt, betäubt oder gebrannt sind. Die Jungen glauben noch an die Machbarkeit von Veränderung. Darum gehen sie Freitags auf die Straße. Der Archetyp des sozial bewussten, manchmal selbstgerechten Moralterroristen (heute würde man wohl Social Justice Warrior sagen) gehört vermutlich seit den 1970er-Jahren zum festen Topos des Teenie-Films. Mary Elizabeth (Mae Whitman) aus The Perks of Being a Wallflower (2012) oder Dulcie (Ali Larter) aus Drive Me Crazy (1999) sind die Lisa Simpsons des Genres, die ihr erwachtes, soziales Bewusstsein nur allzu gerne mit ihrem zumeist desinteressierten bis genervten Umfeld teilen.
Aber auch abseits davon hat sich über die Geschichte des Jugendfilms, von Rebel without a Cause (1955) oder Sie küßten und sie schlugen ihn (1959) über The Graduate (1967) bis zu The Last Picture Show (1971), ein festes Arsenal an Arche- und Stereotypen herausgebildet, die als Grundlage für viele beliebte Franchises wie American Pie (1999) oder Serien wie Buffy dienten. Vom coolen Rebell über den bebrillten Nerd bis zum schüchternen, klugen Mädchen von nebenan, das im Schatten der Schönheitskönigin verblasst. Natürlich handelt es sich bei alledem um Schubladen, um Etiketten und Zuweisungen, die man einerseits wütend zurückweisen, in denen man es sich aber auch Halt-suchend und identitätsstiftend bequem machen kann.
Die innere Utopie
Das Heranwachsen als Lebensphase bietet Filmemachern einen grandiosen, dramaturgischen Nährboden. Bereits der unvermeidbare Konflikt mit den eigenen Eltern bietet genügend Zündstoff für jede Menge Drama. Im Jugendfilm ist alles in Bewegung, nichts sicher. Nicht die eigene (sexuelle) Identität, nicht die eigene gesellschaftliche Rolle, nicht einmal über das Motiv für das erste Tattoo ist man sich ganz sicher, bis man sich einredet, dass man es mit Mitte Zwanzig auch immer noch weglasern lassen kann. In der Jugend haben wir noch Platz für die Utopien in uns. Sich diesen Impetus zu behalten ist wohl die große Aufgabe des Erwachsenwerdens, und dabei den Humor nicht zu verlieren umso schwerer, wenn man in Zeiten von Klimawandel, Rechtsruck und asozialen Medien erwachsen wird. Die gute Nachricht bei alledem: wir müssen nichts davon alleine bestreiten. Das ist auch eine Wahrheit des Coming-of-Age-Genres, die wohl so selten so herzzerreißend artikuliert wurde wie in Rob Reiners Stand by Me (1986). Vier Freunde, ein Sommer und ein Abenteuer. Bei allen Albernheiten und Streitigkeiten findet man sich hier am Ende am Lagerfeuer zusammen und spricht über das, was einen bewegt, enthüllt die Geheimnisse der inneren Landschaft. Und die anderen hören zu. Und das reicht manchmal schon, um eine ganze Welt zu verändern.
Eine kleine Genre-Auswahl:
Call Me By Your Name (2017) von Luca Guadagnino
Bones and All (2022) von Luca Guadagnino
Poor Things (2023) von Yorgos Lanthimos
Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos
Licorice Pizza (2021) von Paul Thomas Anderson
Little Women (2019) von Greta Gerwig
Lady Bird (2017) von Greta Gerwig
Waves (2019) von Trey Edward Shults
Psychobitch (2019) von Martin Lund
The Innocents (2021) von Eskil Vogt
Submarine (2010) von Richard Ayoade
Blau ist eine warme Farbe (2013) von Abdellatif Kechiche
Jugendliebe (2011) von Mia Hansen-Løve
The Spectacular Now (2013) von James Ponsoldt
Rushmore (1998) von Wes Anderson
Scott Pilgrim vs. the World (2010) von Edgar Wright
Paper Towns (2015) von Jake Schreier
Juno (2007) von Jason Reitman
Election (1999) von Alexander Payne
Ocean Waves (1993) von Tomomi Mochizuki
Whisper of the Heart (1995) von Yoshifumi Kondō
Big (1988) von Penny Marshall
Sixteen Candles (1984) von John Hughes
Drive Me Crazy (1999) von John Schultz
Girl (1998) von Jonathan Kahn
The Perks of Being a Wallflower (2012) von Stephen Chbosky
Stand by Me (1986) von Rob Reiner
Stoker (2013) von Park Chan-wook
Superbad (2007) von Greg Mottola
Almost Famous (2000) von Cameron Crowe
Dazed and Confused (1993) von Richard Linklater
Eighth Grade (2018) von Bo Burnham
Speak (2004) von Jessica Sharzer
Raw (2016) von Julia Ducournau
So finster die Nacht (2008) von Tomas Alfredson
Thelma (2017) von Joachim Trier
Louder than Bombs (2015) von Joachim Trier
Der Nachtmahr (2015) von Akiz
Sommersturm (2004) von Marco Kreuzpaintner
Normal People (2020) von Sally Rooney, Alice Birch und Mark O’Rowe
Euphoria (2019/2022) von Sam Levinson
Header: © Columbia Pictures