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Magazin für Filmkritik

Der große Schmerz – „Martyrs“ von Pascal Laugier

Vernarbte Körper

In Zeiten, in denen der sogenannte Elevated Horror für Genrefans in aller Munde ist, klingt es wie eine Floskel – aber: Martyrs ist ein Film über Traumata. Das Trauma verkörpert sich in einer vernarbten, nackten Gestalt (Isabelle Chasse), die die Protagonistin Lucie (Mylène Jampanoï) in aller Regelmäßigkeit heimsucht und attackiert. Diese furchteinflößende, abgemagerte Kreatur, die auch in den Credits nur mit Creature bezeichnet wird, bildet eine der eindrücklichsten Repräsentationen von Trauma überhaupt. Ein Trauma, das Lucie durch ihre rätselhafte, denn nie erklärte Entführung und Gefangenschaft als Kind erlitten hat. In der Kreatur verdinglicht sich die ganze Gewalt ihrer Erfahrung. Beständig reißt sich Lucie alte Wunden auf, ehe diese verheilen können – denn zu heilen, hieße, sich zu verzeihen.

Der Film erzählt sich über Rückblenden in die Zeit von Lucies Gefangenschaft. Darüber wird die Kreatur als eine zurückgelassene Mitgefangene lesbar. Lucie plagt also eine Art Überlebensschuld, ein psychologisches Phänomen, das bei Überlebenden der Shoah erstmals systematisch untersucht und klassifiziert worden ist. Ein Schuldgefühl, das darin wurzelt, noch am Leben zu sein, während andere Mitgefangene sterben mussten. Lucie will also sterben, um die Schicksale auszugleichen und die eigene (empfundene) Schuld zu sühnen. Sie ist gefangen in einem fatalen Kreislauf der Selbstvernichtung.

In der Kreatur als Schaubild des Traumas zeigt sich eine der großen Stärken des Genres, extreme Gefühle und Zustände ansprechen und visuell eindrücklich darstellen zu können, ohne dabei Rücksicht auf die Grenzen des „guten Geschmacks“ nehmen zu müssen. Im Horrorfilm darf alles gesagt und alles gezeigt werden, das Genre ist im Idealfall ein Raum ohne Tabus. Laugier hat das wie kaum ein anderer Regisseur verstanden, ohne sich in provokativen, filmischen Gesten zu verausgaben.

Auf Gewalt erbaut

In die sonntägliche Familienidylle lässt Laugier urplötzlich den Terror hereinbrechen. Wie aus dem Nichts fährt in diesen Film die Gewalt und der Schmerz hinein, vergiftet die Atmosphäre einer scheinbar harmonischen Mittelschichtsfamilie. Es ist kein Zufall, dass Martyrs an diesem Ort den Horror zelebriert. Im Kontrast zum Einstieg, der die Flucht von Lucie aus einem entlegenen Industriegelände schildert, findet dieser Horror (scheinbar) in der Mitte der Gesellschaft statt. In einem weißen, modernen Familienhaus, mutmaßlich irgendwo in einer schicken Vorstadtgegend. Erst später werden wir lernen, dass auch dieser Ort ein Randpunkt ist. Und dass die Ränder der Gesellschaft auch vertikal verlaufen: nach unten und oben.

Mit den räumlichen Dimensionen spielt Martyrs auf mehreren Ebenen: wir lernen, dass das Haus untergraben ist; dass ein geheimer Zugang weitere, unterirdische Ebenen offenbart. Auf ganz ähnliche Weise sollte Bong Joon-hos Parasite viele Jahre später eine narrative Kehrtwende vollziehen. Die Botschaft dieser erzählerischen Konstruktion scheint offenkundig: hinter den Glasfronten und Betonwänden der gut Situierten und Arrivierten, aber auch hinter den guten Manieren und der höflichen Kommunikation verbirgt sich ein gut gehütetes Geheimnis: Lucies Amoklauf trägt die Gewalt nicht unvermittelt in das Haus hinein, sie ist längst da – versteckter, subtiler, im buchstäblichsten aller Sinne fundamentaler. Das Haus ist auf Gewalt erbaut, und damit gleichsam die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die Lucie und Anna (Morjana Alaoui) geworfen sind. Und wir erfahren alsbald, welche gesellschaftlichen Kräfte hinter den grausamen Entdeckungen stecken, die Anna im unterliegenden Bunkersystem macht.

Geheimer Totenkult

Von allen Geheimgesellschaften oder Kulten, die im Laufe der langen Horrorfilmgeschichte imaginiert worden sind, finde ich jene schwarzgekleideten, ansonsten unscheinbaren Männer und Frauen, die von der mysteriösen Mademoiselle (Catherine Bégin) angeführt werden, am schrecklichsten: diese Leute wollen jene, die sie entführen und einsperren nicht einfach töten. Ohnehin verfolgen sie keine plumpen Mordgelüste oder werden durch irgendwelche Pathologien angetrieben. Sie genießen weder die Gewalt noch das Töten. Ihr Ziel ist es, zu Foltern, den größtmöglichen Schmerz, das größtmögliche Martyrium herbeizuführen. Und das Schlimmste daran: wir können zu einem gewissen Grad verstehen und nachvollziehen, warum sie diese Mittel als notwendig erachten. Mademoiselle und ihre Gesellschaft sind getrieben von der eigenen Sterblichkeit, oder eher noch: sind beseelt von der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.

Als Teil einer menschenverachtenden Studie einem solchen Experiment unvorstellbarer Pein hilflos ausgeliefert zu sein, das ist das Szenario des Schreckens, mit dem Martyrs wirkt. Nicht bloß mit visueller Gewalt und expliziten Darstellungen von Verletzungen. Die Motivation der Gruppe ist psychologisch nachvollziehbar und ihre Taten dienen nicht bloß einem reißerischen Shock Value, so wie man es einem Hostel unterstellen könnte. Martyrs „verdient“ sich die wahnsinnige finale halbe Stunde, die eigentlich purer Torture Porn sein müsste, sich aber in seiner visuellen Darstellung auf das Nötigste beschränkt. Selbst in der finalen Tortur ist der Film von fast zarten Momenten durchzogen, etwa wenn Anna gefüttert wird. Denn eines unterscheidet Laugiers Film fundamental von anderen Genrebeiträgen wie Saw oder eben Hostel: er zelebriert kein Leid aus reinem Selbstzweck, sondern untersucht es.

Generationenkonflikt

Am Ende kommen die alten, reichen Leute zusammen und wollen wissen, wie es auf der anderen Seite aussieht; wollen wissen, was nach dem Tod kommt. Annas Martyrium soll diese Antwort liefern. Am Grenzpunkt zwischen Diesseits und Jenseits, in der ein letzter Faden den Märtyrer mit den Hinterbliebenen verbindet, erhoffen sie sich die finale, alles erklärende Erkenntnis. Gerade hinsichtlich der gegenwärtigen Klima- und Gerechtigkeitsdebatten, die auch immer Generationenkonflikte berühren, bekommt diese Konstellation neue Aktualität und Relevanz. Kurzum: die junge Anna muss für die alten Säcke sterben, weil ihnen vor dem großen Ungewissen der Kackstift geht.

In den letzten Minuten von Annas Martyrium, ehe sie endgültig in die Unendlichkeit übertritt, flüstert diese der herbeigeeilten Mademoiselle etwas ins Ohr. Wir hören nicht, was sie sagt. Alles, was wir haben, ist Mademoiselles Reaktion auf das Gesagte. Sie bringt sich um – Kopfschuss. Davor sagt sie zu ihrem Assistenten: „zweifeln sie weiter“. Ein grandioser, hellsichtiger Meta-Kommentar, den man sich als Zuschauer unbedingt zu Herzen nehmen sollte. Und der einen der beeindruckendsten und vielschichtigsten Horrorfilme der letzten zwanzig Jahre auf grandiose Weise beschließt.


Headerbild und Galerie: © Wild Bunch