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Magazin für Filmkritik

Dracula vs. Dracula – Überlegungen zu einer Architektur des Horrors

Landschaften, Orte, Räume, ihre Funktionen und Implikationen finden zwar immer wieder Erwähnung in fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Gothic-Literatur im Allgemeinen und dem Vampir-Mythos im Speziellen, scheinen letztlich aber oft nur eine Zwischenstation in der Argumentation hin zu anderen Themenschwerpunkten. Dracula als subversive Kraft, die die sexuelle Repression der Viktorianischen Gesellschaft entlarvt oder als das ultimative Andere, das die Angst vor der Überfremdung im Vampirismus hysterisch überdreht – das kennen wir; ob freudianisch durchleuchtet oder postkolonial dekonstruiert. Anders steht es um die dunklen Gänge und hohen Hallen der Architektur, die der wohl berühmteste Graf der Welt- und Popkultur seit seinem ersten Auftritt Ende des 19. Jahrhunderts bewohnt. Ich möchte deshalb anhand Francis Ford Coppolas Dracula (1992) und dem gleichnamigen Ursprungsmaterial von Abraham „Bram“ Stoker (1897) einmal die Rolle der (mittelalterlichen) Schauplätze in der Dracula-Geschichte eingehender vergleichend behandeln.

Architektonische Strukturen und die Landschaften, die sie beheimaten, sollen Aufschluss und tieferen Einblick in die bestimmenden Themenkomplexe von Dracula geben. Was erzählen uns die mittelalterlichen Architekturen? Sind sie bloß Pappwände und aufwendiges Dekor, um Atmosphäre zu erzeugen, oder funktionieren sie ebenso auf einer erzählerischen Ebene? Schreiben sie die Geschichte vom Grafen Dracula gar in ihren vermittelten Subtexten fort oder fügen neue Facetten hinzu? Zu Beginn meiner Analyse werde ich versuchen, die essenziellen Motive des Gothic so knapp wie möglich zusammenzufassen. Vor diesem Hintergrund werde ich auch Bram Stokers Roman literaturhistorisch einordnen, da sowohl die zeitliche Epoche als auch die Genre-Tradition, aus der Stoker erwachsen ist, eng verbunden sind mit den Themenkomplexen der Coppola-Adaption. Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen möchte ich schließlich drei ikonische Schauplätze des Dracula-Mythos in den Blick nehmen: das Schloss, die Gruft und die Kapelle.

Sie können im Schloss hingehen, wo Sie wollen, außer dahin, wo die Türen verschlossen sind; dahin werden Sie ja übrigens auch gar nicht wollen.

Stoker, S. 29

Traditionslinien des Schauerromans

John Bowen, Professor für Literatur des 19. Jahrhunderts an der Universität York, zählt in seinem Beitrag für die British Library mehrere Charakteristika des Gothic als literarisches Genre auf, stellt jedoch sogleich voran, dass es keine definitive, allumfassende Antwort darauf gibt, was Gothic-Literatur in ihrem Kern nun ausmacht oder nicht: „there is no essence or a single element that belongs to all Gothics. It is more like a family of texts“[1]. Dementsprechend wird der Gothic-Begriff auch in dieser Betrachtung nicht starr und unwiderruflich festlegbar sein, sondern sich mit den jeweiligen Kontexten erweitern und wandeln. Als Überblick möchte ich trotzdem einige Charakteristika des Schauerromans (wie die Gothic-Literatur im deutschsprachigen Raum genannt wird) benennen und im weiteren Verlauf dieser Analyse auf die Verbindungslinien zu den Schauplätzen und Architekturen in der Dracula-Erzählung eingehen.

Laut Bowen finden sich die Figuren in Gothic-Geschichten zumeist an seltsamen Orten wieder: „somewhere other, different, mysterious“. Er führt als Beispiel das Schloss aus Bram Stokers Dracula an. Charakteristisch für das Genre liegen Orte, die Architekturen wie das Schloss des Grafen beherbergen, zumeist in Süd- oder wie im vorliegenden Fall in Osteuropa. The Castle of Otranto (1764) von Horace Walpole, gemeinhin als Geburtsstunde des Genres gefeiert[2], trägt den unheilvollen Schauplatz beispielsweise schon im Titel. Hier wird eine Burg zum Austragungsort familiärer Fehden und Intrigen. Auch viele nachfolgende Werke, die sich bereits in der Tradition von Walpole wähnten oder zumindest unter dem Einfluss von Walpoles mit A Gothic Story untertitelten Debütroman entstanden, griffen auf das mittelalterliche, unheimliche Schloss als Schauplatz zurück – ebenso der 1789 veröffentlichte Roman The Castles of Athlin and Dunbayne von Ann Radcliffe. Seit den 1790ern erfreute sich die Gothic-Fiction besonders auf den britischen Inseln großer Beliebtheit und blieb „a popular, if controversial, literary mode […] in European literature“ (1790er bis 1830er)[3]. Oftmals, und ebenfalls kennzeichnend, entsteht zwischen den Herkunftsländern der Protagonisten und der antagonistischen Gefahr eine starke Opposition, die sich besonders in den Beschreibungen der jeweiligen Örtlichkeiten niederschlägt.

Eine solche Opposition hat Bowen auch in der zeitlichen Verortung erkannt: „There is a strong opposition in the Gothic between the very modern and the ancient or archaic“[4]. Demnach spielen die Geschichten des Gothic oftmals zu Zeiten des Übergangs, wobei sich an den Schnittpunkten sich diametral gegenüberstehender Epochen die bestimmenden Konflikte herausbilden. Die epochalen Reibungskräfte liefern quasi den dramaturgischen Zündstoff. Dracula spielt, synchron zur Entstehungszeit, am Ende des 19. Jahrhunderts und befindet sich damit in der Folgezeit der ersten Industriellen Revolution (in England beginnend im späten 18. Jahrhundert)[5]. In der englischen Geschichtsschreibung spricht man aufgrund der langen und prägenden Herrschaft von Königin Victoria (1837 bis 1901) auch vom Viktorianischen Zeitalter, weswegen für literarische Erzeugnisse aus dieser Zeitperiode innerhalb des Genres nochmals in Victorian Gothic unterschieden wird.

Ich werde den nicht ganz festlegbaren Begriff „Moderne“ verwenden, wenn ich mich auf diese Zeitperiode der Urbanisierung, Industrialisierung und des wachsenden Wohlstands beziehen möchte. Vor dem Hintergrund dieser gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen lässt sich auch die Faszination des Genres mit Szenarien des Ausgesetztseins verstehen – ebenfalls ein Aspekt, der sich über eine Analyse der Schauplätze in Dracula später noch vertiefen lässt.

Der Vampir im englischen Schauerroman

Wie bereits erwähnt, markierte der britische Schriftsteller Walpole mit The Castle of Otranto schon Mitte des 18. Jahrhunderts den Beginn einer literarischen Gothic-Tradition. Bis jedoch die erste Geschichte um eine Vampir-Gestalt kreiste, dauerte es noch über fünfzig Jahre. Der Historiker Christopher Frayling skizziert den Weg zu einer stark Gothic-geprägten Vampir-Literatur in der kurzweiligen BBC-Sendung Nightmare! The Birth of Victorian Horror: Dracula, die 1996 erstmals im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Demnach veröffentlichte der britische Schriftsteller und Arzt John Polidori im Jahre 1816, nach einer Erzählung des britischen Dichters Lord Byron, dessen Leibarzt er war, die Erzählung The Vampyre um einen Lord namens Ruthven (basierend auf Byron) und dessen Auferstehung von den Toten.[6]

In den frühen 1820ern wurde Polidoris Geschichte, die er im Übrigen ohne die Genehmigung von Lord Byron veröffentlichte, unter dem Titel The Bride of the Isles für die Theaterbühne adaptiert. Varney, the Vampire – ein serielles, wöchentlich erschienenes Pamphlet – machte im Geburtsjahr Stokers (1845) aus dem Vampir Lord Ruthven schließlich einen osteuropäischen Grafen und konnotierte den Akt des Bisses erstmals sexuell[7]. Stoker ließ sich davon mit großer Wahrscheinlichkeit inspirieren, verlagerte Teile seiner Handlung basierend auf diversen Reiseberichten nach Transsylvanien (Elizabeth Millers Essay Typing Transylvania vertieft diesen Aspekt) und fügte dem Vampir-Mythos weitere Tropen hinzu. In seiner Erzählung lassen sich überdies alle oben aufgeführten Motive des Gothic-Genres wiederfinden, unter anderem mit Blick auf die Schauplätze und Architekturen – einige Elemente hat der Roman gar entscheidend mitgeprägt. Ich werde versuchen, diesen Aspekten mit Blick auf Einzelszenen aus Coppolas Filmadaption und Passagen aus dem Ursprungsmaterial nachzuspüren.

I. Das Schloss

Auf seiner Webseite schreibt der Blogger Nick Louras zum Schloss in der Coppola-Verfilmung: „An example of the former [Symbolismus und Wiener Secession] is Dracula’s castle, which is depicted rising out of an outcrop in the Carpathian mountains, modeled on František Kupka‘s 1903 painting The Black Idol (Resistance).“

Binäre Oppositionen

Das Schloss, das „hoch über die oberen Konturen der schroffen Felsgebilde der Karpaten emporragte“[8], wie es Mina Harker auf ihrer Jagd nach Dracula in ihrem letzten Tagebucheintrag beschreibt, ist vermutlich der berühmteste und ikonografisch prägendste Schauplatz des Dracula-Mythos. Die Geschehnisse der ersten Kapitel, die beschwerliche Reise des jungen Anwalts Jonathan Harker zur Residenz des nebulösen Grafen Dracula ist weltberühmt und weitläufig bekannt. Roman wie Film erzählen ihre Geschichte in diesem Einstieg gleichermaßen hintergründig über die Landschaften und Räume, die ihre Figuren durchschreiten. Dracula (1992) über die Mise-en-scène und eine expressive, an die Stummfilmzeit gemahnende Bildkompositionen, Dracula (1897) über die Landschaftsbeschreibungen und räumlichen Metaphern Harkers.

Der Semiotiker Jurij Lotman beschreibt in seiner Publikation Die Struktur literarischer Texte (1993), wie wir in unserer Sprache räumliche Relationen benutzen, um die uns umgebende Wirklichkeit zu deuten. Auch allgemeine Modelle sind demnach „stets mit räumlichen Charakteristiken ausgestattet“ und werden durch die räumliche Modellierung erfassbar.[9] Ein einfaches Beispiel ist die Gegenüberstellung von Himmel und Hölle. Ohne, dass wir es beabsichtigen, denken wir die Topografie, die Landschaft dieser Begriffe, automatisch mit. Die Hölle verorten wir unten – den Himmel oben. Mehr noch: oben nehmen wir positiver wahr als unten. Der Vater der Sprachwissenschaft, der Schweizer Ferdinand de Saussure, nannte solche Gegenüberstellungen in seiner strukturalistischen Theorie „binäre Oppositionen“. Diese fungieren als Organisationsprinzip, um die Welt für uns verständlicher zu machen. Die Bedeutung von Begriffen entstehe demnach erst durch die Differenz zu anderen Begriffen – durch die Negation. “Their most precise characteristic is in being what the others are not”[10], heißt es in einem posthum veröffentlichten Sammelband von Vorlesungsaufzeichnungen de Saussures aus den Jahren 1906-1911.

Dieses Denken in Gegensätzen und Definieren über die Differenz drückt sich besonders in den Beschreibungen des Schlosses, vor allem aber in der beschwerlichen Anreise durch das transsilvanische Hinterland aus[11] – insbesondere im Blick Jonathan Harkers auf die ihm fremden Landschaften. In beiden Versionen durchfährt er die Landschaft zunächst mit dem Zug, später mit der Postkutsche und schließlich mit der privaten Kutsche des Grafen. Der Weg gen Osten ist hier gleichbeutend mit einer Reise in die Vergangenheit. Die technologische Entwicklung – vom Zug zur Kutsche – wird quasi zurückgedreht. Die Architektur des Schlosses wird in dieser Passage sowohl im Film als auch im Roman räumlich und damit gleichsam atmosphärisch eingeebnet. Im ersten Kapitel schreibt Harker: „Der Eindruck war der, dass man den Okzident verlassen und den Orient betreten hatte“[12] – eine beinahe identische Aussage wird im Film aus dem Off eingespielt[13].

Das Spiel mit binären Gegensätzen zieht sich vor allem durch die ersten Seiten des Romans, wird aber auch im Film sehr wohl indirekt verbildlicht. Stoker führt im Roman beispielsweise früh die für den Vampirismus erhebliche Tag-Nacht-Opposition ein und koppelt den Einbruch der Nacht an die negativen Gefühle Harkers. Während der Kutschfahrt scheint es, als befände sich Harker an einem Ort des Übergangs und der Veränderung. „Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären“[14]. Dieser Übergang wird auch zeitlich markiert als Harker feststellt, dass nur noch wenige Minuten bis Mitternacht verbleiben.

Wege in die Vergangenheit

Während der Kutschfahrt stellt Harker bezüglich des schlechten Zustandes der Straßen fest: „Von alters her lassen die Gospodare nichts daran ausbessern, um nicht bei den Türken den Glauben zu erwecken, man wolle Truppen gegen sie marschieren lassen“[15]. Es scheint, als sei das Mittelalter (die militärischen Konflikte dieser Zeit werden hier referenziert) an diesem Ort nach wie vor lebendig und halle nach wie vor in der lebhaften, kollektiven Erinnerung der Bevölkerung nach. Wenn die Kutsche den Hof von Schloss Dracula erreicht, heißt es: „Plötzlich kam es mir zum Bewusstsein, dass der Kutscher den Wagen in den Hof eines großen, ruinenhaften Gebäudes lenkte, aus dessen weiten, schwarzen Fenstern nicht ein einziger Lichtstrahl kam“[16]. Und weiter: „Ich konnte bei dem zweifelhaften Licht erkennen, dass der Stein bearbeitet war, dass aber die Bildereien von Zeit und Wetter schon stark gelitten hatten.“[17] Der Filmkritiker Georg Seeßlen schreibt zum Schauplatz des Schlosses in Kino des Phantastischen – Geschichte und Mythologie des Horrorfilms folgendes:

[…] das politisch veraltete, das nicht sterben kann, Feudalismus, der ins bürgerliche Zeitalter weiterwirkt als Gespenst der alten Zeit. […] Vampire etwa sind immer Adelige; kaum ein Schauerroman kommt ohne die Ruinen von Burgen oder Schlössern aus, den überkommenen Resten einer früher wirksamen Herrschaftsarchitektur. Einst waren Burgen realer Schutz vor Gefahren von außen, Schlösser repräsentierten mit dem Ansehen der Herrscher auch das des Volkes; nun wird der Mythos dieser Architektur ins Gegenteil verkehrt: Alle Gefahr kommt von dort.

Seeßlen, S. 26

Seeßlens Beobachtungen verbinden sich auch mit den Eindrücken von der Umgebung des Schlosses aus Coppolas Filmadaption: Toter, zerfurchter Boden ist da zu sehen; verdorrte Bäume und schroffe, unbelebte Felsvorsprünge. Das ehemalige Herrschaftsgebiet Draculas wirkt unwirtlich und kahl. Der Graf scheint also nicht nur seine Legitimation als Herrscher verloren zu haben, es scheint auch kein Umland mehr zu existieren, das es wert wäre, es zu beschützen. Weiterhin geht Seeßlen auf eine Umkehrung der Oppositionen ein, wenn er beschreibt wie das Schutzversprechen einer Befestigung, einer Burg oder eines Schlosses, zum „Ursprung allen Übels“ verkehrt wird. Diese Beobachtungen verschaffen uns auch einen ersten Einblick in die Figur des Grafen. Bei diesem handelt es sich zunächst einmal um einen nicht länger legitimierten Herrscher. Mehr noch: das vorherrschende Herrschaftssystem des Mittelalters – der monarchisch gelenkte Feudalismus – ist nicht weiter dominant. Mit der Zeit ging darum ein radikaler Machtverlust einher. Andererseits beinhaltete die Verwandlung zum Nicht-Toten einen ebenso radikalen, individuellen Machtzuwachs. Der Vampirismus verunmöglicht eine effektive, traditionell feudale Herrschaft gleichermaßen, wie er eine andere Form der Herrschaft ermöglicht: die Herrschaft über die ungezähmte, wilde Natur (Buch wie Film impliziert, dass er Wölfe über pure Gedankenkraft mindestens beeinflussen kann) und die Macht Andere über einen Biss mit seinem Fluch zu belegen und auf diese Weise ewig an ihn zu binden. Diese gewonnen Fähigkeiten sind Ausdruck eines immensen Machtzuwachs.

„Architektur nimmt im Horror-Genre ein fast personales Eigenleben an und entzieht sich somit der Verfügung des Menschen. Die Ruinen, die verfallenen Schlösser und verlassenen Häuser sind Widerspiegelungen des Halbwesens – wie diese halb menschlich, halb „natürlich“.

Seeßlen, S. 43

Dieses personale Eigenleben lässt sich auch in Stokers Beschreibungen des Schlosshofes wiederfinden: „durch diese drohenden Mauern und dunklen Fensterhöhlen hätte auch meine Stimme keinen Eingang gefunden.“[18] Die Architektur vermittelt durch die Wahrnehmung Harkers ein Gefühl der Paranoia und des Unwohlseins. Es ist also nicht der Graf, der den ankommenden Harker hier aus den dunklen Fenstern beobachtet, sondern das Schloss selbst, das „zum Leben erwacht“ auf Harker hinabblickt. Das Schloss selbst scheint insgeheim böse Absichten zu verfolgen, die Mauern wirken „drohend“ auf Harker ein.

An späterer Stelle scheint es sogar so, als seien die architektonischen Strukturen des Schlosses ein Teil von Dracula selbst geworden: „Ich sah die Finger und Zehen in die Mauerritzen greifen, die der Zahn der Zeit des Mörtels beraubt hatte; er klettert mit so beträchtlicher Geschwindigkeit abwärts, indem er sich die kleinste Unebenheit zu Nutze macht“[19]. Dracula macht sich die Architektur, aber auch den Zustand des Schlosses, dessen Substanz unter den Jahrhunderten zu bröckeln beginnt, für sich nutzbar und erschließt sich mit den steilen Schlossmauern durch seine vom Vampirismus verliehenen Kräfte einen neuen Bewegungsraum.

Das verkapselte Mittelalter

„Within this space, or a combination of such spaces, are hidden some secrets from the past“

Hogle, S. 2

Die immensen Sicherheitsvorkehrungen, die schwere Zugbrücke und der beschwerliche Hinweg mit der privaten Kutsche des Grafen, scheinen Indizien dafür zu sein, dass sich gerade solche Geheimnisse auch im Schloss Dracula verbergen. „Sie können im Schloss hingehen, wo Sie wollen, außer dahin, wo die Türen verschlossen sind; dahin werden Sie ja übrigens auch gar nicht wollen“[20], erklärt Graf Dracula seinem Gast zu Beginn seines Aufenthalts. In diesem Sinne scheint das Schloss (den Beschreibungen im Roman und den Darstellungen im Film nach) dialektisch nach innen gerichtet. Die Räume sind einerseits weit und hoch, doch zugleich verwinkelt und unübersichtlich. Es ist nicht ein solcher Ort, den man als „einladend“ bezeichnen würde – wenngleich Harker eingeladen ist. Lage und Zustand des Schloss lassen auf eine Art selbst gewähltes Exil schließen, in dem der Graf ganz bewusst die soziale Isolation sucht[21].

Der Film thematisiert die Umgebung des Grafen ganz konkret. Nachdem Harker ins Esszimmer geführt wird und beginnt sich mit dem Grafen zu unterhalten, wird ein dort hängendes altes Porträt des Grafen Gegenstand der Unterhaltung (eine Reminiszenz an Albrecht Dürers Selbstporträt). Als er seine Vorfahren (und damit sich selbst) und ihre Errungenschaften von Harker despektierlich besprochen sieht, bedroht er Harker mit einem Schwert. Anschließend beruhigt er sich und stellt fest: „the war-like days are over“ – das Mittelalter ist vorüber, bleibt jedoch gleichzeitig eine Vergangenheit, die in den Hallen des Grafen lebendig gehalten wird. Das alte Porträt, etwa in jener Zeit entstanden, in der das Intro in Coppolas Adaption spielt, nährt die Nostalgie-geschwängerte Atmosphäre in den zugigen, hellhörigen Räumen. Die Zeit scheint an diesem Ort stehen geblieben und der Graf hat für sich ein kleines Stück Mittelalter „konserviert“.

Hier kommt auch ein Leitthema der Gothic-Literatur zum Tragen: Harker, der als Anwalt aus dem modernen London stammt, das seiner Zeit unter den industriellen Innovationen florierte, trifft auf den isoliert dahinlebenden Grafen, der bis auf drei nicht-tote Gespielinnen seit dem tragischen Tod seiner Frau (im Film) keiner Menschenseele mehr begegnete. Er scheint immer noch in den tragischen Erinnerungen an das Mittelalter verhaftet und trägt weiterhin seinen Titel, ohne über die Macht zu verfügen, die der Titel impliziert. Das Überschreiten der Türschwelle bedeutet also nicht nur, dass Harker sich von nun an in der Obhut des Grafen befindet, und sein Schicksal damit in dessen Händen liegt, sondern markiert ebenso eine Zeitreise in die Erinnerungswelten des Grafen. Harker verfällt dieser spürbaren Nostalgie im Roman ebenfalls: „Und doch, wenn mich meine Sinne nicht trügen, hatten und haben die vergangenen Jahrhunderte ihren eigenen Reiz, den „Modernität“ allein nicht zu überbieten vermag.“[22]

Im Gegensatz zum Film, drehen sich weite Teile der ersten Romankapitel um den intellektuellen Austausch zwischen Dracula und Harker. Der Wissensdurst des Grafen scheint dabei wie sein Blutdurst unersättlich. So fragt dieser Harker vor allem über seine Heimat und die dortigen Lebensumstände aus. Seine reichhaltige Bibliothek lässt nicht nur auf einen gebildeten Mann schließen, in seinem regen Interesse scheint sich auch – ganz im Widerspruch zur gewählten Isolation – eine Sehnsucht nach Teilhabe auszudrücken. Das angesammelte Wissen in den Bücherregalen ist auch ein Portal in die englische Kultur. „Ich sehne mich danach, in den dichtbelebten Straßen Ihres ungeheuren London zu promenieren, mitten in dem Getriebe und Gewühle“[23], erklärt Dracula wehmütig.

Treibt man die oben entwickelten Gedanken auf die Spitze, könnte man Dracula als die Verkörperung des Mittelalters verstehen (oder zumindest als eine Figur, die das Mittelalter inkorporiert hat), dem Harker als Prototyp des modernen Menschen (und London als moderner, urbaner Lebensraum) gegenübersteht. Laut Seeßlen bewegte man sich dann nur in der Tradition des Genres, wonach sich in der Entwicklung des Horrorgenres vor allem der ewige Kampf zwischen dem Okkultismus und der Aufklärung widerspiegelt.[24] Dracula verkörpert demzufolge das Archaische, Okkultistische, Tierische – die Fledermaus und den Wolf -, während Harker den aufgeklärten, rationalen Menschen repräsentiert.

Unfreiheit

„Türen, Türen, Türen überall; alle verschlossen und verriegelt; nirgends ein Ausweg als durch die Fenster. Das Schloss ist ein Gefängnis und ich bin ein Gefangener!“[25] Mit der Gefangenschaft Harkers und all den seltsamen Beobachtungen und Entdeckungen, die dieser in den verborgensten Winkeln des Schlosses macht, erhält auch der Horror Einzug in Film wie Roman. Im Film wird die Gefangenschaft Harkers mit einem Bild seiner Verlobten Mina begründet, in dem Dracula die Reinkarnation seiner verstorbenen Frau Elisabeta erkannt haben will; im Buch scheint die Geiselnahme des Anwalts dagegen von Anfang an Teil seines Planes gewesen zu sein. Neben den rein dramaturgischen Gründen für die Gefangenschaft Harkers, der als erzählende Stimme das eindeutige Identifikationsangebot darstellt und damit umso wirkungsvoller den Horror seiner Gefangenschaft vermitteln kann, erzählt die Situation viel mehr über den Grafen. Äußert sich in der Unfreiheit Harkers nämlich nicht vor allem die Unfreiheit Draculas?

Im Rahmen einer Gedicht-Analyse schrieb Jurij Lotman einmal: „als Unbeweglichkeit gilt nicht nur jede mechanische Ortsveränderung, sondern auch jede eindeutig vorherbestimmte, vollständig determinierte Bewegung. Eine solche Bewegung wird als Sklaverei aufgefasst, der die Freiheit gegenüber steht – die Möglichkeit des Unvorhersagbaren“[26]. Viel weniger als die Gefangenschaft und damit verbundene Unfreiheit Harkers, scheint hier also die Unfreiheit des Grafen Dracula interessant. Dieser lebt in strengen Imperativen: er muss Blut zu sich nehmen, darf sich der Sonne nicht aussetzen; der Blutdurst treibt ihn hinaus in die Nacht, um seine Sucht zu stillen, während ihn die Morgendämmerung wieder in den Sarg verbannt. All diese Bewegungen sind „so sicher wie das Amen in der Kirche“ und darum determiniert.

Im Roman stellt Van Helsing fest: „Er kann alles das und ist dennoch nicht frei. Im Gegenteil, er ist noch mehr Gefangener als der Galeerensträfling, als der Narr in seiner Isolierzelle. Er kann nicht überall dorthin, wohin es ihn gelüstet; er, der außerhalb der Natur steht, muss sich dennoch einigen ihrer Gesetze fügen.“[27] Das Schloss lässt sich in diesem Bezugsrahmen wie ein Gefängnis lesen – ein Gefängnis freilich, in das sich der Graf selbst eingeliefert hat. In Harker hat der Graf einen unfreiwilligen Mithäftling gefunden. Die schwere Zugbrücke und das abgeschlossene Tor sind darum nicht in erster Linie Schutzmaßnahmen gegen äußere Kräfte, sondern sorgen dafür, dass Dracula nicht mit den Versuchungen eines sozialen Außerhalb konfrontiert wird. Die Nacht-Existenz sorgt wiederum dafür, dass die Umgebung des Schlosses aus seinem Blickfeld getilgt wird und lässt das Schloss für diesen in einem de-kontextualisierten Zwischen- und Erinnerungsraum existieren. Dracula lebt demnach nicht nur außerhalb jedes sozialen Kontexts, sondern auch außerhalb jeder Zeit. Wie in Gefangenschaft schreitet die Zeit außerhalb der Gefängnismauern ohne ihn voran und bleibt innerhalb der Strukturen des Schlosses eine relative Einheit.

II. Die Gruft

Eine wichtige Opposition in der Erzähltheorie bildet laut Lotman der Gegensatz „offen – geschlossen“[28]. Für geschlossene Räume seien Assoziationen wie „heimisch“, „warm“ und „sicher“ charakteristisch, wohingegen der offene Raum als „fremd“, „feindlich“ und „kalt“ wahrgenommen werde. Dieses Prinzip erfährt bei Dracula in den Anfangskapiteln (und in den Filmszenen in Transsilvanien) eine konsequente Umkehrung. Die Gruft ist dort nicht nur aufgrund ihrer angestammten Funktion als letzte Ruhestätte keineswegs ein heimischer Ort, ebenso wenig ist er warm und durch die Präsenz eines mächtigen Blutsaugers, der um die Bewahrung seines Geheimnisses penibel besorgt ist, auch ganz und gar nicht sicher. Der geschlossene Raum bildet zudem, so Lotman weiter, eine „Zone der Unzugänglichkeit für die feindlichen äußeren Kräfte“[29]. Auch diese typografische Typisierung verkehrt Dracula: Jonathan dringt nämlich dort ein, wo die feindlichen Kräfte ihren Ursprung haben – er befindet sich in der sprichwörtlichen „Höhle des Löwen“. Der Abstieg in die Gruft ist damit sicherlich eine der unheimlichsten Passagen im Roman. Aber was genau ist es, das die aufgeklärten, modernen Menschen wie Harker dort unten fürchten?

Laut dem Germanisten Oliver Lubrich bildete vor allem der Essay Das Unheimliche (1919) von Sigmund Freud einen Ansatzpunkt für eine breite Rezeption von Dracula. In seinem Text Das Schwinden der Differenz (2009) schreibt er: „Freud bestimmt das ´Unheimliche´ – individuell und phylogenetisch – zunächst über die Etymologie des Wortes als das „den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige“ ehemals Vertraute, das verdrängte „Heimliche“ beziehungsweise „Heimische““[30]. Im Gegensatz zum Heimischen, weist das Unheimliche auf etwas Verdrängtes hin. Das Verdrängte wird in der Psychoanalyse gemeinhin im Unbewussten lokalisiert. Harker beschreibt seinen Abstieg in die Gruft so: „Unten gelangte ich in einen finsteren, tunnelartigen Durchgang, aus dem mir widerlicher Leichengeruch und der Dunst frisch aufgegrabener Erde entgegenschlug“[31]. Es fällt nicht schwer, Harkers Gang durch die Gruft des Grafen als Ausflug durch dessen Unbewusstes zu begreifen. In der Gruft ist demnach all das verborgen, das aus dem Bewusstsein gelöscht werden soll, stattdessen aber nur unterdrückt werden kann. Daraus resultiert die latente Gefahr, dass das Verborgene irgendwann doch aus der Gruft an die Oberfläche kriecht. Hierin liegt der Ursprungspunkt der Furcht.

Der vergessene Ort

Dem Cambridge Companion to Gothic Fiction zufolge, sehen sich die Protagonisten in Gothic-Geschichten in der Regel zwei widerstreitenden Kräften ausgesetzt. Die eine Kraft will die Vergangenheit ziehen lassen, um in die Zukunft blicken zu können. Die andere Kraft ist der Vergangenheit immer noch sehnsüchtig verfangen; kann nicht loslassen und will nicht vergessen. Im Widerstreit dieser beiden Kräfte treibt es die Figuren des Schauerromans zu jenen Ängsten und Traumata, die ursprünglich im Unbewussten begraben lagen: „It can force them, first, to confront what is psychologically buried in individuals or groups, including their fears of the mental unconscious itself and the desires from the past now buried in that forgotten location.“[32] Dieser vergessene Ort wird in der Gruft als archaischer Unterbau des Ich metaphorisch lesbar. Die Gruft als kollektives Unbewusstes beherbergt die tiefsten Geheimnisse einer Gesellschaft. Nehmen wir nun tatsächlich an, der Graf sei die letzte, personale Hinterlassenschaft eines lange vergessenen Mittelalters; ein Relikt, das die Erinnerung an diese Epoche im Mikrokosmos seines Schlosses lebendig hält; dann wäre die Konfrontation in der Gruft zwischen Harker und Dracula nichts anderes als die Konfrontation der Moderne mit dem Mittelalter. Und das Geheimnis bestünde darin, dass das Mittelalter im Fahrwasser der Moderne weiterexistieren konnte.

ghosts, specters, or monsters […] that rise from within the antiquated space […] to manifest unresolved crimes or conflicts that can no longer be successfully buried from view.

Hogle, S. 2

Worin besteht nun aber dieser Konflikt? Stehen jene Seiten des Menschseins, von denen man geglaubt hatte, sie seien mit dem Mittelalter begraben worden – im Bild der Gruft – der Moderne gegenüber? Der Film hilft hier wenig weiter, denn Coppola stellt den Verlust von Draculas Frau als dessen zentrale Antriebsfeder dafür vor, nach London zu gehen und dort Mina ausfindig zu machen. Der Roman sucht die Gründe für den Konflikt nicht in einem persönlichen Schicksal und ist deswegen vielseitiger auslegbar. Definiert man den bestimmenden Konflikt von Dracula über die Gegenüberstellung Moderne vs. Mittelalter, scheint die Rollenverteilung eindeutig: Dracula wäre das Mittelalter, und damit die Verkörperung des Archaischen, Tierischen, des Vor-Zivilisatorischen – Harker dagegen wäre der Vertreter der zivilisierten, westlichen Welt und damit Verkörperung der Aufklärung, der technischen Evolution, des ganzen zivilisatorischen Projekts. Seeßlen stellt im Gegensatz dazu eine psychologische Deutung zurück und verweist auf die politischen Lesarten:

Im „Unterbau“ der alten Schlösser wird freilich auch politische Metaphorik wirksam. Die rätselhaften Kellerarchitekturen veranschaulichen geheimnisvolle Grundlagen feudaler Macht, die nun nicht mehr mit Gott, sondern mit dem Teufel im Bunde steht. Was den Adel über seinen geschichtlichen Abgang hinaus mächtig erhält, ist das Verborgene, sind die geheimen Künste der Magie. In den Grüften bleibt die Macht des Adels lebendig, und es ist zu befürchten, daß sie wiederkehrt und Rache nimmt an ihren Überwindern. Im Horror-Genre drückt sich die Angst des Bürgertums vor der Rache des Adels aus, den es entmachtet hat.

Seeßlen, S. 44-45

Seeßlen deutet die Gruft als jenen Ort, an dem ein entmachteter Adel Rachepläne gegen eine revoltierende Bürgerschicht plant. Das Verdrängte stünde demnach für die Erinnerung an eine überwundene Aristokratie und Dracula wäre in dieser Lesart die verdrängte Erinnerung, die in einer Gruft unterhalb sich zersetzender Herrschaftsarchitekturen seine Rückkehr ins Bewusstsein der Verdrängenden sucht.

Grenzziehung

Sowohl Dracula als auch Lucy verfügen als Rückzugsort über eine eigene Gruft. Wichtiger noch: sie können es sich leisten, über eine solche zu verfügen. Bereits die Gruft als Bestattungsort ist Zeugnis einer höher gestellten gesellschaftlichen Position, die offenbar auch ökonomischen Spielraum mit sich bringt. Seeßlen hat recht: Immer ist es der Adel, oder mindestens das gut gestellte Bürgertum, das sich mit den Auswüchsen des Vampirismus herumschlagen muss. Interessant ist hierbei, wie das Bürgertum auf die Rückkehr des Archaischen reagiert.

Der Roman (aber auch im Film finden sich passende Szenen dazu) ist durchzogen von Akten der Grenzziehung. Dies besorgt in der Regel Van Helsing: „Deshalb werde ich einige Sachen, die sie nicht liebt – ein Kruzifix und Knoblauch – vor die Grabtür legen, diese also gewissermaßen versiegeln.“[33] Im Finale: „Ehe ich das Schloss verließ, sicherte ich die Eingänge, sodass der Graf als Nicht-Toter sie nicht mehr betreten kann.“[34] Nach Lotman ist die wichtigste Eigenschaft der Grenze ihre „Unüberschreitbarkeit“[35]. Mauern und Zäune sind in Dracula allerdings kein effektiver Schutz mehr gegen ein vampirisches Geschöpf, das „wie ein roter Funken durch den Nebel“[36] plötzlich und überall auftauchen kann. Die Grenzen, die zu ziehen sind, sind daher vielmehr metaphysische, okkultistische oder gar spirituelle. Dies wird zum Beispiel dann deutlich, wenn Van Helsing den Raum der gebissenen Lucy oder später ihre Gruft versiegelt. Der aufgeklärte, moderne Mensch greift hier auf die vorzeitlichen Mittel des Okkulten zurück, um gegen die teuflischen Kräfte des Vampirismus bestehen zu können[37]. In der Auseinandersetzung mit dem Vampir wird der moderne Mensch gar selbst ein Stück zu dem, das er bekämpft.

Kommen wir nun zurück auf die „Binsenweisheiten“ (Seeßlen), die aus einer psychologischen Deutung resultieren könnten: Denn hat der Kampf der Männerbande um Harker und Van Helsing mit Dacula nicht schlussendlich hochgradig schizophrenen Charakter? Kämpfen nicht all diese modernen Menschen in Dracula nicht letztlich mit sich selbst? Es ist natürlich nicht das Mittelalter per se, das die Veränderungen der Jahrhunderte überstanden hat, sondern jene Dinge, die wir mit ihm zurückgelassen glaubten. Der unkontrollierbare Trieb, die Gewalt und die Lust, die treibt, aber unterdrückt werden muss, um in die Vorzüge einer modernen, zivilisierten Gesellschaft zu kommen, wird aus dem Bewusstsein vertrieben und im Unbewussten begraben. In der Gruft hallt all das wider, das wir glaubten zurückgelassen zu haben, das uns aber immer wieder einzuholen droht. Sie erinnert uns daran, wie dünn die Firnis ist und wie tief der Abgrund unter dem, was wir Zivilisiertheit nennen.

III. Die Kapelle

Der Verweis auf die Vergangenheit ist umso offenkundiger in Coppolas Interpretation der Vorlage: das Intro des Filmes führt den Zuschauer sogar buchstäblich zurück ins Mittelalter und verbindet den Dracula-Mythos mit der historischen Figur des Fürsten Vlad III. „Drăculea“ – Marketing-tauglich auch „der Pfähler“ genannt.[38] Ein Erzähler aus dem Off erklärt im theatralen Einstieg, dass Dracula früher zum Ritterorden der Drachen gehörte und als rumänischer Heerführer gegen die einfallenden Osmanen gekämpft habe. Vlad geht schließlich siegreich aus der entscheidenden Schlacht hervor. Mit einer List gelingt es den Osmanen jedoch, seiner Frau Elisabeta glauben zu machen, er sei in der Schlacht gefallen. Sie begeht aus Trauer um den Grafen Selbstmord und Dracula wendet sich in Wut und Trauer von der Kirche ab, entweiht das heilige Kreuz durch einen Schwertstich und trinkt das herauslaufende Blut. Der Fluch des Dracula findet in Coppolas Verfilmung hier seinen Ursprung. Der Anfang bildet mit dem kathartischen Ende, ebenfalls in der Kapelle des Schlosses, eine filmische Klammer.

Die Türen und Fenster fungieren als Übertrittspunkte, an denen sich Veränderungen anbahnen und schließlich vollziehen: Dracula geht seinem Schicksal entgegen, verlässt seine Frau, um in die Schlacht zu ziehen, indem er die Türschwelle übertritt. Elisabeta begeht Suizid, indem sie sich aus dem Fenster des Kapellenturms stürzt. Dracula wird hier zur tragischen Figur, die unter dem Einfluss eines Verlustes jenem Gott abschwört, der unfähig war, seine Frau zu retten. Coppola erklärt damit die Abkehr Draculas vom Christentum und macht Mina als Reinkarnation seiner Frau zur Antriebsfeder für ihn überhaupt nach London zu gehen.

Die Kapelle ist ein Ort, der in Roman wie Film, verbunden mit der Gruft immer wieder einen Rückzugsort für Dracula bereitstellt. In Transsilvanien ist die Kapelle Teil der Schlossanlage und wird im Film zum Ausgangspunkt des Fluches, in London erwirbt der Graf Carfax Abbey. Im Roman beschreibt Jonathan Harker das Anwesen und erklärt, dass unter anderem alte Baustile aus dem Mittelalter darin verbaut worden seien. Darauf antwortet der Graf: „Es freut mich, dass es so groß und alt ist. Ich selbst stamme aus alter Familie, und das Wohnen in diesen neumodischen Häusern würde mich einfach umbringen.“[39] Das Wohnen in solch „neumodischen Häusern“ (Moderne bezeichnet auch einen Baustil) würde ihn tatsächlich umbringen, da er auf die mittelalterlichen Überreste, die in London zwischen Häusern neuerer Bauart weiterhin Bestand haben, angewiesen ist. Die mittelalterlichen Architekturen mit ihren dunklen, von Sonnenlicht abgeschirmten Kellergewölben scheinen eine feste Bedingung für die Existenz außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu sein. Auch Coppola zeigt, wie Dracula Unmengen transsilvanischer Erde nach London schaffen lässt. Mit der Erde verschifft er einen Teil konservierten Mittelalters, das in der Grufterde enthalten ist. Abermals verkehrt die Einkehr des Grafen die Oppositionen. Die Ruinen jenes Ortes, an dem einst der christliche Glauben praktiziert worden ist, bietet nun plötzlich bösen, ketzerischen Mächten Zuflucht.

Zwischenräume der Erinnerung

Die Narration in Coppolas Film deutet Orte wie die Kapelle vollkommen neu, kreiert aber auch interessante Zwischenräume, die im Roman keine Rolle spielen. Ehe wir aber zur Kapelle als Schauplatz zurückkehren können, müssen wir die radikal umgeschriebene Beziehungsgeschichte zwischen Graf Dracula und Mina „Murray“ Harker anhand eines Beispiels erläutern. Die Landschaften Transsilvaniens scheinen nämlich auch einer Sehnsuchtsfantasie dienlich. Nachdem sich Dracula und Mina das erste Mal in den Straßen Londons begegnen und dort den Tag miteinander verbringen, sitzen sie am Abend schließlich bei einem Gläschen Absinth in einem Salon und reden über die Heimat Draculas. „A land beyond a great vast forest, surrounded by majestic mountains and lush vineyards and flowers of such frailty and beauty as to be found no where else“[40], seufzt Mina in der trüben Erinnerung an ihr früheres, vage erinnertes Leben. Hier führt der Film das weiter, was er in den ersten Interaktionen zwischen Mina und Dracula bereits andeutet: zwischen den Beiden herrscht nämlich nicht vorherrschend Abneigung, wie es der Roman beschreibt, sondern eine tiefe, gegenseitige Verbundenheit. Der Drehbucheinfall, die beiden Figuren über eine vermeintliche Reinkarnation historisch miteinander zu verkitten, verändert auch die Bedeutung ihrer Umgebungen und wie sie zu lesen sind.

Die Landschaften des fernen Transsilvanien drücken in dieser Szene scheinbar auch die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus den strengen Rollenbildern der Londoner Gesellschaft aus. Der Fluch Draculas, der Vampirismus, kann demnach sogar als Heilsbringer verstanden werden, der Mina, in Buch wie Film immer den Befehlen und Handlungen der von Van Helsing angeführten Männerbande unterworfen, die Möglichkeit eröffnet, sich ein Stück weit Unabhängigkeit zu erkämpfen. Nicht ohne Grund sind im Hintergrund der Szene die erhabenen Panoramen und die mysteriösen Schlösser Transsilvaniens visualisiert[41]. Sie bilden eine Projektionsfläche für ihre Sehnsucht. Diese Sehnsucht, ihre gemeinsame Sehnsucht, ist ein Zurückerinnern, ein nostalgischer Gedanke an das Mittelalter als ihr Glück noch währte, und damit zum Ursprungspunkt des Traumas und des Fluches. Der Salon wird zu einem Zwischenraum der gemeinsamen Erinnerung.

Zum Schluss kehrt der Film in die Kapelle zurück. An dem Ort, an dem der Fluch beschworen wurde, wird nun der Fluch gebrochen. Der „Ketzer“ Dracula erfährt eine Form der Absolution und wird mit seiner Geliebten wiedervereint. Coppola inszeniert das Ende Draculas als Katharsis, bei der die Liebe als Heilmittel angeführt wird. Es ist nicht weiter das Christentum, sondern die Liebe als quasi-religiöse, heilbringende Erfahrung, die hier im Mittelpunkt steht: Wir hören Mina aus dem Off: „There, in the presence of God, I understood at last how love could release us all from the power of darkness.“[42] Die Kraft der Dunkelheit resultiert aus der Trauer um seine Frau – erlöst werden kann er erst, nachdem er sich verabschiedet hat. Die Kapelle wird zum Ort der Verlustbewältigung und bildet mit dem Intro die Klammer für den Film. Lotman schreibt in Die Struktur literarischer Texte von einem Gott, der ins Reich der Seligkeit einkehrt, schlussendlich aber „nicht eins mit seiner neuen Umgebung“[43] werden kann. Auch Dracula bleibt in seinem Wesen ein Nicht-Toter. Die Überschreitung der Grenze wird zu seinem Untergang, oder im Falle von Coppolas Umdichtung: zur Erlösung.

Wissen Sie denn, was das für ein Platz ist? Haben Sie die Fallgrube voll höllischer Infamien gesehen, wo selbst das Mondlicht grauenhafte Gespenster gebiert und jedes im Winde wirbelnde Staubkörnchen ein grässlicher Ungeheuerembryo ist?

Stoker, S. 471

Header- und Galerie-Bilder Dracula (1992) © Columbia Pictures

Einzelnachweise:
[1] Bowen, John: (2014) gothic motifs. <https://www.bl.uk/romantics-and-victorians/articles/gothic-motifs>
[2] Hogle, Jerrold: (1999) The Cambridge Companion to Gothic Fiction, Cambridge Press. S. 1
[3] Hogle, S. 1
[4] Bowen
[5] Gömmel, Rainer: (2009) Grundzüge der Europäischen Wirtschaftsgeschichte. Regensburg: Universität Regensburg. S. 27-32
[6] Frayling, Christopher: (1996) Nightmare! The Birth of Victorian Horror: Dracula, London: BBC. 6-8 Min.
[7] Frayling, 7-10 Min
[8] Stoker, Bram: (2008) Dracula. Deutsche Übersetzung von Stasi Kull. Köln: Anaconda Verlag. S. 494
[9] Lotman, Jurij: (1993) Die Struktur literarischer Texte. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 313
[10] de Saussure, Ferdinand: (2007) Nature of the Linguistic Sign. In: The Critical Tradition: Classic Texts and Contemporary Trends, hrsg. David H. Richter. Boston, MA: Bedford/St. Martin’s. S. 845 (de Saussure hat seine Sprachtheorie nicht selbst veröffentlicht. Sie wurde stattdessen erst nach seinem Tod in verschiedenen Sammelbänden allmählich publiziert.)
[11] Lubrich, Oliver: (2009) Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld: Aisthesis Verlag. S. 99
[12] Stoker, S. 5
[13] Coppola, Francis Ford: (1992) Dracula. Columbia Pictures. 8. Min.
[14] Stoker, S. 15
[15] Stoker, S. 12
[16] Stoker S. 20
[17] Stoker, S. 21
[18] Stoker, S. 21
[19] Stoker, S. 46-47
[20] Stoker, S. 29
[21] Seeßlen, S. 141
[22] Stoker, S. 49
[23] Stoker, S. 28
[24] Seeßlen, S. 22
[25] Stoker, S. 36
[26] Lotman (1993), S. 320
[27] Stoker, S. 319
[28] Lotman (1993), S. 327
[29] Lotman (1993), S.328
[30] Lubrich, Oliver: (2009) Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld: Aisthesis Verlag. S. 101
[31] Stoker, S. 63-64
[32] Hogle, S. 3
[33] Stoker, S. 269
[34] Stoker, S. 493)
[35] Lotman (1999), S. 327
[36] Stoker, S. 344
[37] Lubrich, S. 110
[38] Miller, Elizabeth: (1997) „Typing Transylvania“, In: Reflections on Dracula: Ten Essays. White Rock: Transylvania Press. S. 50
[39] Stoker, S. 33
[40] Coppola, 1:04 Std.
[41] Coppola, 1:04 Std.
[42] Coppola, 1:58–1:59 Std.
[43] Lotman (1993), S. 343

Quellen:
Bowen, John: (2014) gothic motifs. <https://www.bl.uk/romantics-and-victorians/articles/gothic-motifs>
Coppola, Francis Ford: (1992) Dracula. Columbia Pictures. 128 Min.
de Saussure, Ferdinand: (2007) Nature of the Linguistic Sign. In: The Critical Tradition: Classic Texts and Contemporary Trends, hrsg. David H. Richter. Boston, MA: Bedford/St. Martin’s. S. 841-51.
Frayling, Christopher: (1996) Nightmare! The Birth of Victorian Horror: Dracula, London: BBC. 51 Min.
Gömmel, Rainer: (2009) Grundzüge der Europäischen Wirtschaftsgeschichte. Regensburg: Universität Regensburg. S. 27-32.
Hogle, Jerrold: (1999) The Cambridge Companion to Gothic Fiction, Cambridge Press.
Lotman, Jurij: (1993) Die Struktur literarischer Texte. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 311-347.
Lotman, Jurij: (1990) „Über die Semiosphäre“. In: Zeitschrift für Semiotik. Tübingen: Stauffenberg Verlag. S. 284-305.
Lubrich, Oliver: (2009) Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld: Aisthesis Verlag. S. 99 – 147.
Louras, Nick: (2020) The Art of Dracula 1992. >https://nicklouras.com/2020/10/17/the-art-of-dracula-92/<
Miller, Elizabeth: (1997) „Typing Transylvania“, In: Reflections on Dracula: Ten Essays. White Rock: Transylvania Press. S. 47 – 69
Miller, Elizabeth: (1997) „Has Dracula Lost His Fangs?“, In: Reflections on Dracula: Ten Essays. White Rock: Transylvania Press. S. 25-47.
Seeßlen, Georg, Claudius Weil: (1980) Kino des Phantastischen – Geschichte und Mythologie des Horrorfilms. Berlin: Rowohlt Verlag.
Stoker, Bram: (2008) Dracula. Deutsche Übersetzung von Stasi Kull Köln: Anaconda Verlag.
Wynne, Catherine: (2013) Bram Stoker, Dracula and the Victorian Gothic Stage. Basingstoke, Hampshire: Palgrave Mcmillan.


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