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Magazin für Filmkritik

Filme wiedersehen – über ein flüchtiges Medium

Ich schaue Filme gerne ein zweites oder drittes Mal. Sei es, um meine ursprüngliche Einschätzung zu überprüfen, Unverstandenes endlich zu begreifen oder einfach nur, um eine gute Zeit zu haben. Letzteres gilt wohl in erster Linie für sogenannte Feel Good Movies – Wohlfühlfilme, die man sich wie vorgewärmte Pantoffeln immer wieder über die kalten Füße zieht und die einen jedes Mal aufs Neue verlässlich wärmen.

Noch einmal das erste Mal

Vielleicht sehne ich mich dabei nicht einmal so sehr nach dem Film selbst, sondern eher nach der Seherfahrung, die ich einmal mit ihm gehabt habe. Ich denke, die gesamte Retro- und Nostalgiewelle des Gegenwartskinos und Fernsehens, mit seinen unzähligen Neuauflagen und Fortführungen bekannter Filmmarken, lässt sich auf diese Sehnsucht zurückführen: der Sehnsucht, gute Erinnerungen neu zu erleben, etwas Verlorengegangenes zurückzuholen. Die Kulturindustrie hat es verstanden, dieses Nostalgiebedürfnis zu bewirtschaften. Nicht nur, indem es die Bedürfnisse bedient, sondern auch, indem sie diese gezielt weckt.

Vielleicht sehne ich mich also vor allem nach dem Erlebnis, dass ich das erste Mal mit einem Film gehabt habe und versuche die Faszination und Wucht der Erstsichtung zu reproduzieren. Früher schaute ich meine Lieblingsfilme regelmäßig, manchmal mehrmals in der Woche. Ich sehnte mich danach, in denselben Momenten ergriffen, erschrocken und überwältigt zu sein. Jack und Rose in der erträumten und darum so bittersüßen Finalszene aus Titanic, Vater und Tochter auf dem Tokioter Hochhausdach am Ende von Babel, das erste Aufeinandertreffen zwischen Detektiv Deckard und der Replikantin Rachael aus Blade Runner. Was ich suchte, war eine Erinnerung. Der Erinnerung, etwas das erste Mal zu sehen und dabei vom Gefühl erfüllt zu sein, dass sich durch das Gesehene etwas Grundsätzliches verschiebt – eine neue Welt, die sicht- und fühlbar wird, eine neue Perspektive, die sich öffnet, ein neues Licht, in dem die Dinge neue Konturen gewinnen.

Durch andere Augen sehen

Manchmal erzählt mir jemand so begeistert von einem Filmerlebnis, dass mich diese Person mit ihrer Begeisterung ansteckt. Auch eine gute Kritik ist hierzu fähig. Vor allem dann, wenn es ihr gelingt, den Leser durch jemand anderes Augen sehen zu lassen. Oder zumindest die Illusion zu bereiten, dass so etwas möglich sei. Wenn ich den Film, von dem mir mit solcher Begeisterung vorgeschwärmt wurde, schließlich schaue, ist meine Motivation dazu aber nicht immer der Film, sondern auch die Seherfahrung desjenigen, der mir davon so schwärmerisch berichtet hat. Ich sehne mich nach der Seherfahrung eines anderen, den Film durch andere Augen zu sehen als die meinen, durch ein anderes Herz zu fühlen; dieselbe Begeisterung, dieselbe ansteckende Faszination zu verspüren.

Kindliche Begeisterung

Ganz ähnlich verhält es sich wohl auch mit der kindlichen Begeisterung, die wir uns manchmal mit einer Mischung aus Trübsal und Nostalgie zurücksehnen – noch einmal das erste Mal den T-Rex aus dem Gehege des Jurassic Park stampfen sehen; den Millennium Falken aufsteigen; die Titanic untergehen [insert your childhood memory here]. Auch hier findet sich vielleicht eine Erklärung für die Retrowelle der vergangenen Jahre: wir sehnen uns nicht bloß nach den Gesichtern, Welten und Geschichten unserer Kindheit und Jugend – wir sehnen uns auch nach einer einfacheren Art des Sehens. Einer unbefangenen, naiven Rezeptionshaltung. Nach der ausgeprägten Begeisterungsfähigkeit des Kindes (in uns).

Als Filmliebhaber ist dies eine Frage, die mich seit Anbeginn meiner Leidenschaft beschäftigt: wie bewahre ich mir das Kind, ohne mich für die kritische Analyse zu betäuben, ohne, wie man so unschön sagt, „das Gehirn auszuschalten“. Ich kann mein Gehirn nicht ausschalten – ich will es auch nicht. Manchmal wünsche ich mir dennoch die Augen jenes Kindes in mir zurück, das für die Wunder des Kinos noch unausgesetzt empfänglich war; dass sich mit Leib und Seele in die Fiktionen versenken konnte und erst beim Abspann wieder aus dem Traum erwachte – verändert.

Spiegel unserer Selbst

Doch das mit der Filmrezeption ist eine verdammt komplizierte Sache. Seherfahrungen lassen sich nicht replizieren, lassen sich nicht beliebig wiederholen. Wir können denselben Film immer wieder schauen, aber nie ein zweites Mal gleich. Darum sind Kritiken auch nur eine Momentaufnahme, eine Gefühlskizze. Nicht mehr. Und darum kann es so erhellend sein, einen Film ein zweites oder drittes oder viertes Mal zu schauen. Der orangene Himmel, vor dem sich Jack und Rose so herzerwärmend umschlungen küssen, ist immer noch derselbe wie damals, als ich ihn zum ersten Mal auf dem Röhrenfernseher über die VHS-Aufzeichnung gesehen habe – aber mein Blick hat sich verändert.

Die Liebe ist geblieben, doch ich habe neue Gründe und Argumente für meine Wertschätzung gefunden. Ich kann meine Gefühle besser erklären. Und anhand dessen bemerke ich, wie ich mich selbst verändert habe, während Leo und Kate noch immer im gleichen Glanz erstrahlen wie damals (plus der Extrapixel heutiger Auflösungsraten). Die Filme bleiben also dieselben, zumindest in ihrer Dose oder auf der Festplatte, aber wir verändern uns. Die Beziehung zu einem Film zeichnet unsere Wandlung nach – als Seismograf der eigenen Selbstwerdung. Insofern sind Filme nicht bloß „Spiegel der Gesellschaft“, wie es der einflussreiche Filmsoziologe Siegfried Kracauer einmal beschrieb, sondern auch Spiegel unserer Selbst.


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