Bildsucht

Magazin für Filmkritik

Grenzen der Höflichkeit – „Speak No Evil“ von Christian Tafdrup

Unlogische Menschen

Vielerorts musste ich lesen, wie unrealistisch und unlogisch das Verhalten der dänischen Eltern doch sei. Diese Kritik kann ich nur zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Vor allem scheint sie mir am eigentlichen Punkt des Filmes vorbeizugehen. Gerade die Handlungsunfähigkeit und Konfliktscheue des dänischen Paares steht schließlich im Zentrum der Erzählung und wird in unzähligen Szenen aufgegriffen, herausgearbeitet und schließlich vom Film selbst kommentiert. Es geht um die fehlgeleitete Höflichkeit und sozialen Normen, die einzuhalten, jeden gesunden Instinkt ersticken und schließlich jeden Impuls zur Wehrhaftigkeit neutralisieren. Vor allem gelingt es dem Film über die erste Hälfte auf beeindruckende Weise, viele kleinere und größere Irregularitäten im Verhalten des niederländischen Paares anzuhäufen, ohne die Antagonismen klar zu sortieren.

Klar, etwas an diesem Paar ist komisch und klar, sie übertreten immer wieder Grenzen der Höflichkeit oder irritieren durch merkwürdiges Verhalten – während die dänische Frau (Sidsel Siem Koch) duscht, kommt etwa der niederländische Mann (Fedja van Huêt) ins Bad und putzt sich die Zähne. Aber diese Grenzüberschreitungen bleiben zunächst auf unbequeme Art und Weise subtil und beiläufig. Sie sind nicht groß genug, um offen in den Konflikt zu treten und nicht klein genug, um unbemerkt zu bleiben. Und besonders, nachdem das dänische Paar zum ersten Mal zum Haus zurückkehrt, wird durch die Aussprache mit dem niederländischen Paar vieles neu perspektiviert, sodass man wie das dänische Paar beginnt, die eigene Bewertung der Ereignisse zu hinterfragen.

Fehlende Wehrhaftigkeit

Erst danach wird der Film klarer und bestätigt das ungute Gefühl, für das man bis dahin mühsam Zeichen der Bestätigung suchte. Hier muss der Film zwangsläufig an Spannung einbüßen. Zumindest, wenn es einem primär um die Aufdeckung der Positionen und Motivationen ging und weniger um die konkrete, physische Aushandlung des zutage tretenden Konflikts. Wenn das dänische Paar dabei zusehen muss, wie das niederländische Paar ihren Sohn (Marius Damslev) vorführt, weil dessen Tanzbewegungen nicht synchron mit denen der dänischen Tochter (Liva Forsberg) sind, vollführt der Film eine konfrontative Wendung, an dessen Anschluss man sich zu Recht fragt, warum die dänische Familie nicht ein zweites Mal, und dieses Mal endgültig, von dort flieht.

Dennoch möchte ich diese Verhaltensweisen zumindest insofern unter Suspension of Disbelief verbuchen, als dass dieses Verhalten weiter auf den thematischen Kern des Filmes einzahlt. Es geht um die Handlungsunfähigkeit liberaler Eltern und ihre fehlende Wehrhaftigkeit. Aufseiten des dänischen Paares scheint es überhaupt kein richtiges Gefahrenbewusstsein zu geben. Stattdessen wird vieles weggelächelt. Es scheint ein wachsendes Thema im skandinavischen Kino per se zu sein, die Schattenseiten liberal-progressiver Gesellschaftsentwürfe kritisch zu beleuchten. Ich denke dabei an das Kino eines Ruben Östlund (siehe Play) oder einen Film wie Psychobitch, der ganz konkret nach den Grenzen einer liberalen Erziehung fragt. Die Botschaft scheint klar: die Netten werden zuerst gefressen. Nicht ohne Grund antwortet der niederländische Mann auf die Frage, warum sie das alles tun, mit niederschmetterndem Nihilismus: „Weil du mich lässt.“


Headerbild und Galerie: © Nordisk Film