Bildsucht

Magazin für Filmkritik

Leben ohne Erinnerung – „Dark City“

Fisch im Fischglas

Eine Deckenlampe wirft flackernde Lichtkegel und ein Mann (Rufus Sewell) erwacht in einer Badewanne, aber ohne Erinnerung an sich und den Ort, an dem er erwacht. Unser namen- und erinnerungsloser Protagonist sieht sich um, sein Blick fällt auf einen Fisch im Fischglas. Als Zuschauer finden wir uns mit diesem rätselhaften Einstieg in einer seltenen Lage wieder: gestrandet sind wir mit einem Protagonisten, der ebenso wenig weiß wie wir selbst. Da ist kein Wissensvorsprung über die Welt, über die eigene Rolle darin, nicht einmal über die eigene Verfasstheit. Gemeinsam erwachen wir aus einem Traum, der sich schnell in einen Albtraum verkehrt: er müsse vorsichtig sein, erklärt eine unbekannte Stimme hastig am Telefon, Menschen würden nach ihm suchen; er habe infolge eines schiefgelaufenen Experimentes sein Gedächtnis verloren, finstere Gestalten seien ihm nun auf den Fersen.

Alsbald treten auch ebenjene Verfolger auf den Plan – Männer in Schwarz; jene mysteriösen Bleichgesichter, die im verschwörungstheoretischen Diskurs entweder als ominöse Regierungsvertreter oder maskierte Außerirdische kodiert sind. Parallel dazu trifft die Ehefrau des Protagonisten (Jennifer Conelly) auf einen hypernervösen Psychiater (Donald Sutherland). Dieser weist sie auf ein „rather crude experiment“ hin: eine Ratte ist in einem labyrinthischen System gefangen, sucht einen Ausweg, aber findet ihn nicht. Die Ratte, wir ahnen es, ist natürlich unser Protagonist. Die Ratte im Labyrinth reiht sich nahtlos in Proyas symbolträchtige Filmsprache ein. Fisch und Ratte – beides Repräsentanten eines orientierungslosen, verwirrten Nachtläufers. Die Stadt als Fischglas, die Stadt als labyrinthisches System, die Stadt als Versuchslabor.

Immer wieder tauchen die Kreissymbole auf, die unser Protagonist zu Beginn des Filmes auf einer nackten Frauenleiche entdeckt. Auch seine Fingerabdrücke gleichen denselben rätselhaften Symbolen. Und wie in Kreisen bewegt er sich durch die expressionistischen Stadtarchitekturen und vernebelten Straßen von Dark City. Die ontologische Sinnkrise schreibt Proyas tief in die Mise-en-scène seines Filmes ein. Die Fassaden schreiben sich in den Zügen des Protagonisten fort und andersherum. Wer bin ich? Was bin ich ohne Erinnerung? Und wer ist es, der uns in der Suche nach Antworten auf den Fersen ist? Die Männer in Schwarz sind unter der Stadt verortet. Die Charakterisierung der Verschwörer als uniforme, sinistre Halbwesen, die Mensch scheinen, aber nicht sind, erfolgt gleichsam über die versteckten Architekturen, die sie beheimaten. Unter einem doppelten Boden kommen sie zum Vorschein und erinnern in ihrem Auftritt an die Grauen Herren aus Michael Endes Momo. Doch anders als Endes Zigarrerauchende Bürokraten haben es Proyas‘ blasse Gestalten nicht auf die Zeit der Menschen abgesehen, sondern auf ihre Erinnerungen.

Kollektiver Bildspeicher

Aus der Gedächtnisforschung ist schon länger bekannt, dass Menschen Szenen aus Filmen oder Literatur in ihr eigenes, erinnertes Leben verbauen.1 In Dark City ist genau das die Frage, die sich stellt: wie fiktiv sind unsere Erinnerungen? Und wie eigen sind uns die Bilder, die wir unser Eigen nennen?

Unsere inneren Bilder sind nicht immer individueller Natur, aber sie werden auch dann, wenn sie kollektiven Ursprungs sind, von uns so verinnerlicht, dass wir sie für unsere eigenen Bilder halten. Die kollektiven Bilder bedeuten deshalb, dass wir die Welt nicht nur als Individuen wahrnehmen, sondern dies auf eine kollektive Weise tun […] Unsere Bilderfahrung gründet zwar auf eine Konstruktion, die wir selbst veranstalten, und doch wird sie gesteuert von der aktuellen Verfassung, in der die medialen Bilder modelliert sind. Es läuft auf einen Akt der Metamorphose hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln, die fortan und in unserem persönlichen Bildspeicher einen neuen Ort finden.

Belting, S. 24

Die Bilder unseres persönlichen Bildspeichers sind so wirkmächtig, so intuitiv wahr und wirklich, weil sie sich aus epistemologischer Sicht so verführerisch auf die Netzhaut legen. Sie führen uns vor, wie manipulationsanfällig wir sind – und wie fragil das ist, was wir Wahrheit nennen. Dark City spielt demnach ein doppeltes Spiel. Er verführt und verwirrt uns mit den Bildern, deren Urheber er unbezeichnet lässt. Und dadurch, dass sie unbezeichnet bleiben, werden sie gleichsam kollektiv austauschbar; werden zu Werkzeugen eines ideologischen Streits, der nur den Sieg, nicht aber die Wahrheit kennt. Bilder ohne Urheber tragen, so wie Erinnerungen ohne Erinnernden, keine Wahrheit in sich, sind leer.

Die Erinnerungsdiebe behalten die Kontrolle über die Menschen, weil sie ihre Erinnerungen kontrollieren. Dadurch, dass diese ihre Vergangenheit nicht lückenlos klären können, ihr im Gegensatz ständig nachhängen in dem Impuls, die verloren gegangenen Puzzlestücke aufzufinden und in eine Ordnung zu überführen, sind sie in der Gegenwart gelähmt und ohnmächtig eine Zukunft zu gestalten. Der Blick in die Zukunft ist folglich ein finsterer in diesem gleichfalls finsteren Film. „I don’t think the sun even exists“, erklärt unser Protagonist, der mittlerweile weiß, dass er John Murdoch heißt. Dieser John Murdoch hat ein Ziel, einen Sehnsuchtsort: Shell Beach, Muschelstrand, Hüllenstrand. Entkernte Realitäten werden hier wie Sandkörner vom Strand aufgelesen und am Ende treibt die Welt als gigantische Raumstation durch das unendliche Schwarz des Weltraums. Der Verschwörungstheoretiker darf erleichtert aufatmen: die Welt, am Ende doch nur eine Scheibe.


Fußnoten:
[1] Pommrenke, Sascha (2014): Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 316
[2] Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Verlag Wilhelm Fink, zitiert nach Roloff, Volker (2008): Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen. In: Intermedialität Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 24

Header-Bild: © New Line Cinema