Bildsucht

Magazin für Filmkritik

Sucht im Film – Über Substanzmissbrauch, unstillbaren Durst und ein Lebensgefühl

© Concorde

Die Bilder, die im Kopf entstehen, wenn wir an einen „Süchtigen“ denken, sind relativ klar: jemand, der sein Leben nicht unter Kontrolle hat. Eine willensschwache Person, die einer bösartigen Substanz zum Opfer gefallen ist. Die Unfähigkeit, von dieser Substanz abzulassen, bringt Chaos und Zerstörung mit sich. Der Süchtige ist nicht nur willensschwach, sondern seine Sucht auch sozial geächtet. Der zur Schau gestellte Kontrollverlust weckt vielleicht sogar Ekelgefühle. Da zerstört sich jemand langsam aber sicher selbst. Und mit sich auch sein Umfeld. Und das alles nur wegen einer kleinen Droge – welcher Art auch immer. Aber was ist, wenn man den Süchtigen und die Sucht einmal ernst nimmt? Wenn man, statt zu diffamieren, von sich abzuweisen oder sozial zu ächten, der Suchtsprache wirklich zuhört?

Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

Beautiful Boy

Die Selbstzerstörung schauspielerisch bis in die Akzente hinein aufgegriffen hat Timothée Chalamet in „Beautiful Boy“. Der verlorene Blick, die unkontrolliert ins Gesicht fallenden Haare und der von der Lebenskraft verlassene Ton seiner Stimme zeigen die Sucht als einen langsamen Sterbeprozess. Wie jemand, der sich nach und nach aushungert, sucht der Süchtige zwanghaft und unerbittlich nach dem Gefühl von Kontrolle. Und zwar auch auf Kosten seines Lebens, wenn es soweit kommen muss. Denn der Kontrollverlust selbst ist schon existenziell. Die Sucht ist nur die Suche nach einer ebenso existenziellen Stabilisierung.

Alle Ratschläge zur Gesundung durch das Etablieren von Alltagsroutinen müssen dem Süchtigen profan, existenziell leer, wie Phrasen ohne Gehalt vorkommen. Hinter dem bisweilen erbärmlich wirkenden Trauerspiel des Süchtigen ist ein Wissen um die tiefgehende Haltlosigkeit des Daseins verborgen. Die Sucht ist die unbeholfene und doch wirksame Reaktion auf dieses Wissen. „Er hätte nicht hinter den Schleier der Maya schauen dürfen. Er kennt jetzt zwar den Gipfel, aber er weiß nun auch, wie tief es ins Tal hinabgeht.“

Das Hochgefühl, dass die Substanz (in diesem Fall Crystal Meth) mit sich bringt, lässt den Alltag sinnlos erscheinen. Nicht einfach, weil es so geil war und der Alltag nun mal Alltag ist, sondern weil unter der oberflächlichen Erfahrung des Alltäglichen fortan die Intensität von Leben und Tod, von Gipfel und Tal, kontrastiv zur Oberfläche hin raunt. Es gibt Momente in „Beautiful Boy“, die dieses tiefgreifende Wissen empathisch veranschaulichen. Beispielsweise, wenn sich der Vater des Süchtigen, gespielt von Steve Carell, eingestehen muss, dass er seinen Sohn nicht retten kann. Die existenzielle Haltlosigkeit sucht immer eine Mutter oder einen Vater. Denn die Haltlosigkeit selbst ist ja auch Elternlosigkeit. Der Vater wird zur Ersatzdroge. Erst wenn er sich selbst entzieht, ermöglicht er den Entzug. Aber er weiß auch, dass er seinen Sohn damit in die Dunkelheit entlässt. Er weiß, dass jener daraus vielleicht nicht mehr zurückkommen wird. Die Szene, in der Steve Carell den Vater spielt, der seinen Sohn in ebenjene Dunkelheit entlässt, ist herzzerreißend und von einem feinsinnigem Gefühl für das beinahe Unerträgliche der menschlichen Psyche.

Vieles an „Beautiful Boy“ beschwört eher das Bild des willensschwachen „Suchtis“. Zwar immer empathisch, aber dennoch mit dem viel zu kurz gegriffenem Fokus auf die unheilbringende Substanz. Auf der Ebene des Drehbuchs jedenfalls. Die eigentliche Tiefe des Films entsteht durch den Soundtrack und vor allem durch die schauspielerische Leistung von Chalamet und Carell.

Sound of Metal

Ein Film, der ganz konkret die Suchtproblematik von der Substanz entkoppelt, ist „Sound of Metal“. Ruben, Schlagzeuger in einem Metal-Duo mit seiner Freundin, verliert auf Tournee urplötzlich sein Gehör. Der Verlust ist höchst dramatisch. Bis vor vier Jahren war Ruben noch heroinabhängig. Die Musik, so ist anzunehmen, war bis dato sein Heilmittel, gewissermaßen seine gesündere Ersatzdroge. Die fällt jetzt weg. Es ergibt sich der Umstand, dass Ruben in eine Wohngruppe für Gehörlose aufgenommen wird. Die ist gleichzeitig auch Anlaufstelle für Menschen mit Suchtproblematik. Die Gehörlosen und die Süchtigen würden „voneinander profitieren“, so Joe, Leiter der Wohngruppe.

Was hat Gehörlosigkeit mit Sucht zu tun? Die Angst vor der Stille und dem Nichts in dieser Stille. Wer das Gehör verliert, verliert für den Moment eine Verbindung zum Leben. Eine Brücke zur äußeren Realität. Schlagartig abgekappt. Niedergerissen. Die Nähe zum Tod als das vollkommene Niederreißen jedweder Brücke, das Abkappen aller Verbindungen, wird plötzlich fühlbar. Der Reflex ist, sich so schnell wie möglich an alles zu klammern, was Leben verspricht. Alles laut stellen, überall Licht einschalten, jedem unwichtigen Gedanken hinterherjagen, rastlos von Ort zu Ort wandern, tätig sein, immer in Bewegung. Nur nicht stehenbleiben und Loslassen und erfahren, was sich in der grenzenlosen Einsamkeit der Dunkelheit verbirgt.

Auch Ruben versucht mit allen erdenklichen Mitteln das Gefühl der Stille zu meiden. Er rennt in gewisser Weise davon und versucht sich mithilfe eines künstlich implantierten Gehörs sein altes Leben zurück zu erkaufen. Noch weiß er nicht, dass es keine Lösung für sein Problem gibt, dass es keine Substanz in dieser Welt gibt, die seine Sucht stillen könnte. Dass der einzige Weg hinaus der Weg mitten hinein ist. Joe, der Wohngruppenleiter und selbst ehemaliger Alkoholiker, kennt diesen Weg aus eigener Erfahrung. So kommt es – ähnlich wie in „Beautiful Boy“ – zu einer emotional bewegenden Szene: Ruben, der immer noch am Weglaufen ist, bittet Joe um Hilfe, sucht in ihm Halt, um nicht in die Stille zu fallen. Joe weiß, dass er Ruben sich selbst überlassen muss. Er weiß auch, welche ungeheuerliche Prüfung in dieser Einsamkeit auf ihn warten wird. Denn er hat es selbst schon einmal durchmachen müssen.

Das alles geschieht ohne viele Worte. Riz Ahmed spielt den getriebenen Ruben mit seinem ganzen Leib. In jeder Faser wird das Festhalten ersichtlich, aber die Augen sprechen die Wahrheit: nämlich Einsamkeit und Angst. Angst vor dem Loslassen. Paul Racis Spiel ist erschreckend realistisch. Man ahnt, dass die zur Schau gestellten Gefühle aus eigener Erfahrung schöpfen. Großartig ist auch, wie der Film es am Ende schafft, zumindest einen Hauch der Stille-Erfahrung fühlbar zu machen, die Ruben zu fliehen versuchte.

Nymphomaniac I & II

Lars von Trier radikalisiert die Sucht, indem er sie vollkommen ernst nimmt. Joe ist Nymphomanin, was für sie bedeutet, eine Getriebene ihrer eigenen Lust zu sein. Im zweiten Teil des Films trifft sie auf eine Selbsthilfegruppe für „Sexsüchtige“. Schnell wird klar, dass Joe mit der therapeutischen Sichtweise nichts anfangen kann. Ihren unstillbaren Lebensdurst als Defizit zu betrachten, liegt ihr fern. Sie sieht ihr Kindheits-Ich vor sich erscheinen und bemerkt den Verrat, den sie sich selbst gegenüber antun würde, würde sie ihre Lust als eine kurierbare Krankheit annehmen.

Joes Suche in der Lust ist grenzenlos und Grenzen sprengend. Immer noch mehr und noch weiter. Das Gefühl angekommen zu sein, wird sich nie einstellen. Das macht sie zur Mystikerin. Denn wer keine Grenzen kennt, erfährt ebenso den Gipfel wie das Tal. Bereits als Kind macht sie bei der Selbstbefriedigung die Erfahrung der unio mystica, der Vereinigung mit dem Göttlichen oder dem Absoluten. Fortan ist die Suche in ihrer Lust an diese einstige Gipfelerfahrung gekoppelt. An das einmalige Erleben von existenzieller Geborgenheit. Deshalb findet sie sich auch nicht mit den willkürlich gesetzten Grenzen gesellschaftlicher Normen ab. Der Kunsttheoretiker und Literaturwissenschaftlicher László F. Földényi schreibt in seinem philosophischen wie auch literarischen Meisterwerk „Starke Augenblicke“ über das Grenzenlose in der mystischen Erfahrung:

„Es muss aber nicht ein Zeichen des Bösen sein, wenn jemand die Grenzen überschreiten will; und auch nicht von Hybris, wenn er die Welt des Maßes verlassen will. Die Unbefriedigtheit, die den Menschen veranlasst, die Grenzen überschreiten zu wollen, ist gleichsam kosmisch und lässt sich psychologisch nicht deuten. Warum ist es dennoch alarmierend? Weil der Mensch sich von der Bürde seiner Schranken und Grenzen nur dadurch befreien kann, dass er eine neue Bürde auf sich nimmt: die Bürde des Schrankenlosen, des Grenzenlosen. Er erkennt sich im Unbekannten, im völlig Anderen wieder. Damit aber auch in jenem Unmöglichen, das ihn daran hindert, sich vertrauensvoll an irgendetwas festzuhalten.“

László F. Földényi, Starke Augenblicke, S. 103f.

Lars von Trier lässt die existenzielle Dimension der Suchtproblematik zu Wort kommen, ohne sie einzudämmen. Der Film hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Joe hätte die Erfahrung der unio mystica, die sie als Kind gemacht hat, verdrängen können. Sie hätte sich in eine Gesellschaft eingliedern können, als eine gesunde Person, die das Wissen um die Gipfel und Täler des Daseins, das Wissen um den Tod, weit genug verdrängt hätte, um das Schauspiel dieser Gesellschaft erfolgreich mitzuspielen. „The human qualities“, so Joe, „can be expressed in one word: Hypocrisy. We elevate those who say ‚right‘ but mean ‚wrong‘ and mock those who say ‚wrong‘ but mean ‚right‘.“ Aber aus Liebe zu sich selbst geht sie diesen Weg nicht und nimmt den schwereren. Die untherapierbare Sucht ist in dem Zusammenhang auch eine Gesellschaftskritik. Eine Anklage an eine Kultur, deren oberstes Ziel es ist, alles was an die Grenzenlosigkeit des Todes gemahnt, zu verbannen und heuchlerisch sich in der Illusion von Sicherheit einzurichten. Überhaupt alles verstehen, organisieren, letztlich beherrschen zu wollen. Dazu nochmal ein längerer, aber ungemein wichtiger Passus von Földényi:

„Eine der Voraussetzungen menschlicher Gemeinschaften besteht darin, dass man sich dem Maß verpflichtet, die Grenzen achtet. Grenzüberschreitung ist in jeder Hinsicht ‚gemeinschaftsfeindlich‘. Menschliches Zusammenleben ohne irgendein System ist unvorstellbar. Ein solches System ist freilich nicht von vornherein despotisch. Despotisch wird es erst, wenn eine Gemeinschaft oder Gesellschaft sich weigert anzuerkennen, dass ihre unentbehrliche Organisation letztlich genauso zwecklos ist wie das Leben selbst; dass früher oder später auch sie wie eine blühende Pflanze dazu verurteilt ist, zu verwelken und zu verfallen. Wie das Beispiel zahlreicher alter und außereuropäischer Kulturen zeigt, gelingt es Gemeinschaften, die sich nicht um jeden Preis vom Kosmos absondern wollen (in ihm nicht einen Gegenstand der ‚Forschung‘ oder der Unterjochung sehen), sondern sich in dessen Ordnung einfügen, auch die aufrührende und tragische Erfahrung der Grenzüberschreitung in sich zu integrieren […]. Eine Gemeinschaft, die das versäumt, muss die Grenzüberschreitung dagegen als Verbrechen abstempeln, ein Zeichen der Verblendung darin erblicken.“

László F. Földényi, Starke Augenblicke, S. 115f.

Sucht im Film

Das Schöne am Medium Film ist – wie mit jeder Kunstform –, dass es nicht erhellen muss, darin nichts kuriert werden muss, es existenziell und subversiv sein kann und letztlich auch die Sucht als mehr zeigen darf, denn als stumpfe Pathologie: Sucht als Suche, als Grenzüberschreitung, als tiefgreifendes Wissen um die Höhen und Tiefen des Daseins, als angstvolles Weglaufen, als unbändige Lust, als Gesellschaftskritik und letztlich als eine conditio humana.


Quellen:
Földényi, László F. (2013): Starke Augenblicke. Eine Physiognomie der Mystik: Matthes & Seitz Verlag.


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