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Magazin für Filmkritik

Wie mich Linklater die Nostalgie lehrte

Verunsicherung

Ich möchte nur kurz eine Verunsicherung in mir zum Ausdruck bringen, die mit Nostalgie, Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit der Gegenwart zu tun hat. Bisher habe ich immer von mir behauptet, nostalgische Gefühle nicht zu kennen. Mit großen Fragezeichen in den Augen habe ich ungläubig jenen Menschen zugehört, die mir mit Sehnsucht von einer unwiederbringlichen Vergangenheit erzählten und wie diese in Erinnerungen schwelgende Haltung sie in eine süßlich-melancholische Stimmung versetze. Musik sei besonders dazu geeignet, solche Empfindungen heraufzubeschwören. Ich liebe – wie vermutlich die meisten – Musik, aber nichts an ihr hat mich je dazu bewogen, Gefühle für eine unwiederbringliche Vergangenheit zu entwickeln.

Gefühle müssen nicht sinnvoll sein. Im Gegenteil: Wer hatte nicht schonmal einen Crush auf eine fiktive Person? Oder fürchtet sich vor vollkommen irrationalen Dingen? Angst vor möglichen zukünftigen Ereignissen, die nie eintreffen werden. Wut auf einen Computer. Reue allgemein. Das kenne ich alles auch. Also (wenn ich mich an dieser Stelle einmal selbst analysieren darf) eine umfassende Gefühlstaubheit, bezogen auf irrationale Gegebenheiten, scheint es nicht zu sein, die mir das Nachempfinden von Nostalgie so erschwert. Deshalb bin ich verunsichert.

Den Moment einfangen

Es gibt aber einen Regisseur, der es geschafft hat, meine Verunsicherung ein Stück weit zu besänftigen und der mir mit einer Vielzahl seiner Filme das sehnsuchtsvolle Schwelgen in Vergangenem zumindest nähergebracht hat: Richard Linklater. Die Before-Reihe beispielsweise (ich sage „Reihe“ und nicht „Trilogie“, weil ich ganz im Stillen noch darauf hoffe, dass es auch weiterhin im Neun-Jahres-Takt Fortsetzungen geben wird). Wie sich im ersten Film der Reihe bereits die Konflikte und erneuten Annäherungen der späteren Fortsetzungen ankündigen, wie im Futur II die Gegenwart als bereits geschehen imaginiert wird, wie der Augenblick selbst schon als solcher unter seiner Bezeichnung von seiner Augenblicklichkeit entrückt wird („Jetzt ist der Moment, in dem wir uns küssen?“), während die Wiener Szenerie hinter den Gesprächen dieser zwei sich annähernden Menschen beinahe ganz unbemerkt vorbeizieht, löst auch in mir so etwas wie Nostalgie aus. Ich möchte den Moment der Annäherung dieser beiden Menschen einfangen, das vorbeiziehende Wien festhalten, die Weinflasche soll nicht ausgetrunken, der Abend nicht zu Ende gehen.

Jesse und Celine im Park

In Linklaters Filmen geht es immer wieder um das Alltägliche und wie besonders es eigentlich wird durch seine Vergänglichkeit. Boyhood hat keine durchkomponierte ergreifende Geschichte. Auch die Before-Reihe ist keine fein-justierte Erzählung. Sein neuster Film, Apollo 10 1/2, verläuft nach keiner klassischen Erzählstruktur. Der Erzähler berichtet ganz einfach von seinen alltäglichen Beobachtungen zur Zeit, in der er aufwuchs (Ende der 1960er Jahre). Hierbei vermischen sich Erinnerungen an tatsächliche Ereignisse, Liedinhalte, Fernsehserien und eigene Träumereien, bis hin zur – davon ist auszugehen – Fantasie, er sei der ersten Mondlandung zuvorgekommen und selbst schon auf dem Mond gewesen. Für die Erinnerung ist es egal, ob etwas wirklich passiert ist oder ob es mir passiert ist. Es gibt auch so etwas wie eine kollektive Nostalgie.

Loslassen

Und wenn ich Linklaters Filme sehe, von denen ich möchte, dass sie nicht enden; wenn sie wirklich schaffen, was sie versuchen, nämlich den Moment einzufangen, dann wird mir klar, dass die Sehnsucht in der Nostalgie sich nicht nach Vergangenem sehnt, sondern eigentlich das Gefühl des vergehenden Augenblicks ist. Wir wollen in der Nostalgie also gar nicht die Vergangenheit zurückholen (wir wissen um ihre Unwiederbringlichkeit), wir werden uns nur gegenwärtig anhand dieser Vergangenheit erneut gewahr, dass alles vergeht. In der Nostalgie versuchen wir nichts zurückzuholen, sondern wiederholen den Prozess des Loslassens. Linklaters Filme haben mich diesen Aspekt der Nostalgie gelehrt, insbesondere auch als Filme, die ihren eigenen Status als Zeitdokument immer wieder reflektieren.

Jesse und Celine beim Hören der Schallplatte

Und doch: Wenn auch im Fluss des Lebens jede Stelle einzigartig und vergänglich ist, bleibt der Fluss als Ganzes gleich. Die Before-Reihe veranschaulicht das anhand der Liebe wie vermutlich kein anderer Film.

Blockuniversum

Anhand der Liebesthematik demonstriert die Filmreihe eine Art Überzeitlichkeit, die die einzelnen Stationen des Liebeswegs insgesamt für wichtig hält. Jede Station des Liebeswegs gehört dazu und ist in gewisser Weise immer anwesend. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sind gleichwertig da und die Liebe bedeutet sowohl Leidenschaft als auch Krise, Annäherung als auch Entfremdung, letztlich Zusammenhalt über die vergehende Zeit hinweg. Die philosophische Theorie vom „Blockuniversum“ beschreibt eine solche Gleichwertigkeit der Gesamtheit der Zeit analog zum Raum (zum Nachlesen: https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/180915). Linklaters Filme beinhalten auf subtile Weise auch dieses tröstende Element einer im Blockuniversum permanenten Anwesenheit von Allem.

Celine: Es ist so, weil ich immer dieses seltsame Gefühl habe, dass ich eine uralte Frau bin, die sich zum Sterben hinlegt. So, als würde mein Leben nur aus Erinnerungen oder so bestehen.

Jesse: Das ist Wahnsinn. Ich denke immer noch, dass ich dieser dreizehnjährige Junge bin, der einfach nicht weiß, wie man erwachsen wird und eben nur so tut, als würde er sein Leben leben und sich Notizen macht für die Zeit, in der er erwachsen sein muss.

Before Sunrise

Headerbild: © Netflix; Galeriebilder: © Warner Bros (Universal Pictures)