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Magazin für Filmkritik

Dokumentarfilm neu denken – „Leviathan“ und die Zukunft der Visuellen Anthropologie

Die überlegene Spezies

In Steven Spielbergs Filmversion von War of the Worlds überfallen Außerirdische die Erde. Bei ihrem Angriff steuern die Aliens riesige dreifüßige Kampfmaschinen, die die panischen Erdenbewohner mit futuristischen Strahlenkanonen augenblicklich zu Staub pulverisieren. Im Laufe des Filmes stellt sich heraus, dass die außerirdischen Invasoren die Vernichtung der Menschheit weniger aus Mordlust, denn aus ökonomischen Erwägungen heraus betrieben haben. Der Massenmord ist in der Grammatik der Aliens nicht mehr als ein Ernteprozess, die dreibeinigen Kampfmaschinen fungieren folglich als Ernte-Roboter. Diese fangen die Menschen zunächst in einem großen Käfig auf, zuvor werden sie „gepflückt“, dann in einer Art „Entsafter“ zerkleinert und deren blutigen Überreste anschließend auf dem Erdboden verstreut. Auf dem mit Menschenblut gedüngten Boden wachsen von da an fremdartige Pflanzen.

Diese Szene weist frappierende Parallelen zu einem philosophischen Gedankenexperiment auf, das der Autor und Philosoph Richard David Precht im Rahmen der Tierethik-Debatte entwickelte. In diesem Szenario landen ebenfalls hochtechnologisierte, uns überlegene Außerirdische auf der Erde. Sie versklaven die Menschen, um sie als Nutztiere produktiv zu machen, veranstalten zu medizinischen Zwecken Experimente mit ihnen und verspeisen sie schließlich aufgrund kulinarischer Vorlieben. Die Menschen sind darüber verständlicherweise wenig glücklich und bitten die Außerirdischen, ihre Artgenossen doch lieber nicht zu verspeisen. Diese aber erwidern, dass sie das gleiche Verhalten bei den Menschen und ihrem Umgang mit anderen, unterlegenen Spezies beobachtet hätten und rechtfertigen damit ihr eigenes Handeln. Kants kategorischer Imperativ schlägt voll ein, denn den Menschen entziehen sie damit jede Argumentationsgrundlage für ihr eigenes Existenzrecht.

Auf einem Fischerboot irgendwo im Nordatlantik strömt derweil durch ein Loch an der Seite des Bugs ein ununterbrochener Blutstrahl ins Meer. Das Blut stammt von tausenden Fischen, die das Fischerboot mit Schleppnetzen tagtäglich aus dem Meer zieht. Die überlegene, außerirdische Spezies ist hier der Mensch, der mit hocheffektiven Maschinen versucht, eine maximale „Ernte“ zu erzielen. Die Szene entstammt der experimentellen Dokumentation Leviathan. Sie erzählt von … ja, wovon erzählt sie eigentlich?

Neue Perspektiven

Wo Spielberg die Menschenernte 2005 ganz selbstverständlich aus der Perspektive der Menschen schilderte, um auf diese Weise das grausame Schicksal der Erdenbewohner emotional fruchtbar zu machen, versucht Leviathan in der Darstellung der industrialisierten Schleppnetzfischerei eine solche Perspektive nicht nur zu vermeiden, sondern in den perspektivischen Entscheidungen selbst einen theoretischen Standpunkt auszudrücken. Im radikalen Verzicht auf eine rein menschliche Perspektive erschließt sich dem Film nämlich eine vollkommen fremdartige, tatsächlich apokalyptische Bilderwelt. In etwa so, als begleite man die Aliens aus War of the Worlds ebenso bei ihrer Ernte wie die Menschen, die Opfer ihrer flächendeckenden Invasion werden.

Mit der Multiperspektivität wird es dann plötzlich furchtbar kompliziert: die grausamen Invasoren, die in den Fiktionen der Unterhaltungsindustrie das bedrohliche Andere personifizieren, wirft Leviathan direkt auf uns zurück. In den Schuhen des Anderen soll die eigene Sicht auf die Welt infrage gestellt werden, ohne – wie es das philosophische Gedankenspiel tut – eine ethische Lehre oder ökologische Botschaft verbal zu explizieren. Wenn überhaupt, dann verdichtet sich Leviathan im Arrangement seiner Bilder zu einer ermahnenden, ökologischen Botschaft – ohne dabei ein Wort verlieren zu müssen. Dafür verfolgt die Dokumentation von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel seine gesamte Laufzeit über gänzlich andere Strategien.

Leviathan zeigt Fische, Krabben, Möwen, Maschinen und die Menschen, die in einer Beziehung zu all diesen Lebens- und Dingwelten stehen, vor allem nebeneinander und verortet diese nicht in einer hierarchischen Erzählstruktur. Diese Form der De-Hierarchisierung drückt sich in erster Linie in der Wahl der filmsprachlichen Mittel aus. Dazu zählt zunächst einmal der Verzicht auf all jene Konventionen, die den dokumentarischen Film sonst so fest im Griff haben: es gibt kein Voice Over, und damit keinen durch eine Vorrecherche erzeugten Kontext, keinen hetero-diegetischen Musikeinsatz und keine Talking Heads – jene Interview-Stimmen, die im Dokumentarfilm zumeist orientierende Referenzpunkte bereitstellen, indem sie sich zu den Dingen des Filmes anstelle des Zuschauers positionieren.

Im Mittelpunkt des Filmes steht somit kein figuraler Ankerpunkt. Damit existiert auch kein Orientierungspunkt für den Zuschauer, sich im Chaos der stürmenden See und im Chaos unvertrauter Arbeitsprozesse zurechtzufinden. Die Kamera (der Film wurde ausnahmslos mit GoPros aufgenommen) heftet sich in der Folge an alles, das diesen Ort bevölkert. Sie treibt im Kielwasser haltlos durch das Meer, den Kräften der Strömungen gänzlich unterworfen, sie schummelt sich in ein gefülltes Fischernetz, um den Fangvorgang aus Sicht des Fisches darzustellen oder kommt einer verletzten Möwe so nahe, dass in der Beschaffenheit der nassen Federn formale Strukturen abstrakten Charakter bekommen.

Die Rolle des Subjekts

Die Beziehung des Filmes zum Subjekt ist deswegen ein zutiefst paradoxes. Einerseits scheint die Rolle des Subjektes durch den multiperspektivischen Ansatz und eine sich immer wieder emanzipierende, Distanz gewinnende Kamera einen immensen Bedeutungsverlust zu erleiden, gleichzeitig beeinflusst das gefilmte Subjekt maßgeblich die Perspektive der Kamera. Dadurch vermittelt sie auch immer wieder ein existenzielles Gefühl von Verloren- und Geworfenheit. Einigen Fischen, die leblos an Deck umhertreiben, legt sich die GoPro ganz einfach dazu, bis sie den Fischen direkt in die toten Augen blickt. Vom sichtlich gezeichneten Kapitän zeigt die Kamera, der Ikonographie des Western gleich, lediglich den Bildausschnitt der Augenpartie. Der Duellant ist hier das Meer, die Natur … Gott? Die Kamera möchte so nah dran sein an der Welt, die sie abzubilden versucht, dass sie offenbar am liebsten in ihre Subjekte eindringen würde, um die Kameralinse der subjektiven Erfahrung so gänzlich zugänglich zu machen.

Das führt gleichzeitig zu einem der Hauptanliegen der Sensory Ethnography, der sich Castaing-Taylor und Langzeit-Kollaborateurin Paravel als prominenteste Vertreter des SEL (Sensory Ethnography Lab) der Harvard University auch institutionell verschrieben haben. Dort heißt es, solle die innovative Verschmelzung von Ästhetik und Ethnografie gefördert werden. Ein Anspruch, der auch viel Aufschluss über Leviathan gibt, der in der Vermittlung von Erfahrungswelten (Ästhetik als die Lehre der Wahrnehmung) und ethnischer Fremdheit (Ethnografie) jedoch einen entscheidenden Schritt weitergeht: die Menschen in Leviathan spielen nämlich keine Rolle im Sinne ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit. Noch am ehesten definieren sie sich über ihren Beruf.

Castaing-Taylor und Paravel verstehen die Ethnografie vielmehr Spezies-übergreifend und sind nicht einmal durchgängig am Subjekt interessiert. Wenn die Kamera in ihre Subjekte eindringen möchte, dann nur, um sich anschließend wieder wütend von ihnen abzuwenden, um Teil eines metallenen Ungetüm zu werden. So verschwimmen die Grenzen zwischen den Entitäten: wir haben das Schiff als eigenständigen Charakter, insbesondere durch das vom Bild entkoppelte Sound-Design stetig präsent, das klaustrophobische Chaos im prall gefüllten Schleppnetz, den Konkurrenzkampf der Möwen um den begehrten Beifang, das Meer in seiner unbändigen Gewalt oder die Fischer, die mit der Zigarette im Mundwinkel stoisch ihrer Arbeit nachgehen.

Im Kontrast zur Brutalität der Tötung und den routinierten Handgriffen der erfahrenen Fischer scheint Leviathan sich auf die Suche nach einer Wahrheit zu machen, die sich gerade aus den Gegensätzen, Widersprüchen und der Vielzahl von Blickwinkeln konstituiert. Vielleicht geht es also um nichts anderes als einen originären, sensorischen Zugang zur Wirklichkeit zu finden. In der Sensory Ethnography und ihrem starken Fokus auf die Erfahrungswelt ihrer Subjekte drückt sich deswegen auch immer die Sehnsucht nach etwas Vorsprachlichem aus; etwas, das die Unmittelbarkeit und Gewalt der Erfahrung erlebbar macht ohne sie intellektuell vorzukodieren. Die dichte Beschreibung, die Clifford Geertz im Rahmen der Methodologie der Feldforschung einst postulierte, schreiben Castaing-Taylor und Paravel so zur dichten Darstellung um (Pavsek, 2015: 5). Statt einer Stimme geben sie den Subjekten einen Körper (Thain, 2015: 44).

Die Erfahrung des Bewusstseins liegt vor der Sprache. Castaing-Taylor veranlasst dieser Gedankengang zu der Behauptung, sein Film liege vor der Interpretation (Pavsek, 2015: 6) – eine bemerkenswerte Aussage, die dessen Film auch sogleich gegen jede Kritik zu immunisieren versucht. Der Versuch des Filmes, einem anderen Bewusstsein, oder zumindest einer fremden Erfahrungswelt nahe zu kommen, muss schlussendlich ein Versuch bleiben; ein nie ganz zu verwirklichender Traum davon, die Welt durch die Augen eines Anderen zu sehen und sie dadurch neu zu entdecken. Dieser perspektivischen Gebundenheit zu entfliehen, sie vielleicht sogar zu transzendieren, bildet eine der zentralen Triebkräfte des Kinos generell.

Die Kraft des Bildes

„But what if film doesn’t speak at all? What if film not only constitutes discourse about the world but also (re)presents experience of it? What if film does not say but show? What if a film does not just describe but depict?“

Castaing-Taylor, 1996: 86

Dieser Gedankengang aus Castaing-Taylors aufsehenerregenden Aufsatz Iconophobia verlagert den Fokus auf die Rolle des Filmemachers und dessen Erfahrung. Statt die Erfahrung zu beschreiben, soll sie dargestellt werden, ohne sprachlich (und damit stets ideologisch) kompromittiert zu werden. Sich der Sphäre des Sprachlichen zu entziehen, scheint somit auch immer durch den Wunsch angetrieben, ideologischen Vorannahmen vorzuschützen.

Die radikalen Mittel, die diesen theoretischen Vorüberlegungen gefolgt sind (insofern ist Leviathan natürlich zu jedem Zeitpunkt ideologisch aufgeladen), brachte den Filmemachern unter anderem den Vorwurf ein, in ihrer scheinbaren, strikten Abkehr vom Rationalismus lediglich einem blinden Empirismus zu folgen, der in einer ebenso blinden, filmischen Erfahrung gipfele (Pavsek, 2015: 5). Die von Castaing-Taylor prognostizierte Ikonophobie, die Angst der Wissenschaft vor der Ambiguität des Bildes, stand im Zuge dieser Auseinandersetzung die wiederum vom Filmwissenschaftler Christopher Pavsek prognostizierte Logophobie, die Angst der Sensory Ethnography vor der sprachlichen Einfassung des Bildmaterials, gegenüber.

Das knüpft an die ewigen Diskussionen über neue Kunstformen und ihren Stellenwert an und führt sie sogleich weiter, indem sie zum Schauplatz einer akademischen Auseinandersetzung werden. Am Grunde der stiefmütterlichen Behandlung der Visuellen Anthropologie vonseiten der Mutterdisziplin liegt die Frage nach der Eigenständigkeit von Bilderwelten und den Gefahren ihrer Vieldeutigkeit. Ein Umstand, den die Filmemacher des IWF (Institut für den Wissenschatlichen Film) beispielsweise mit dem Gedanken an eine verobjektivierbare, filmische Wissenschaftsdisziplin zu überwinden hofften.

Leviathan gibt auf diese Frage eine klare Antwort: wo die Sprache an ihre Grenzen gelangt, soll das Kino beginnen. Der Dokumentarfilm im Allgemeinen, und die Visuelle Anthropologie im Besonderen, ist deswegen nicht bloß die Fortführung ihrer Mutterdisziplin mit audiovisuellen Mitteln, sondern eine eigene Disziplin, die sich den Herausforderungen im Umgang mit dem Bild (und allen Risiken, die damit verbunden sind) selbstbewusst stellen muss. Denn die Vieldeutigkeit des Bildes ist nicht gleichbedeutend mit willkürlichem Relativismus, interpretatorischer Spielraum nicht gleichbedeutend mit totaler Egalität. Die Abstinenz einer Stimme ist nicht Äquivalent mit der Abstinenz eines Ausdrucks. Und der Filmemacher ist nicht abstinent, wo dessen Stimme durch die Montage stets hörbar bleibt. Aus Leviathan spricht deswegen vor allem ein unbändiges Vertrauen in die Kraft der Bilder und damit einhergehend ein unbändiges Vertrauen in die Mündigkeit des Zuschauers.


Dieser Text erschien zum ersten Mal am 20. Juli 2018 auf meinem alten Filmblog. Dies ist eine überarbeitete Fassung.

Quellen:
Castaing-Taylor, Lucien: Iconophobia. In: Transition, No. 69 (1996), S. 64-88.
Pavsek, Christopher: Leviathan and the Experience of Sensory Ethnography. In: Visual Anthropology Review 31, 1 (2015), S. 4-11.
Thain, Alanna: A Bird’s Eye View of Leviathan. In: Visual Anthropology Review 31,1 (2015), S. 41-48. 

Links:
https://www.youtube.com/watch?v=QBBY04zTaXI, zuletzt aufgerufen am: 10.04.2022
https://sel.fas.harvard.edu/, zuletzt aufgerufen am: 10.04.2022


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