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Magazin für Filmkritik

Just another persönlicher Jahresrückblick! (2021)

Lieblingsfilme

Dune
von Denis Villeneuve

Meiner Meinung zum Film habe ich bereits in einer kurzen Kritik im September Ausdruck verliehen. Wie so oft würde ich nach der Zweitsichtung, sowie nach der Lektüre der Vorlage, den einen oder anderen Kritikpunkt revidieren, andere wiederum vertiefen. Was bleibt ist die Liebe für die Welt und den Detailgrad ihrer Darstellung. Von der „invertierten tonalen Flatline“, wie ich es in meiner Besprechung noch einigermaßen kompliziert ausgedrückt habe, konnte ich beim zweiten Sehen weniger spüren. Der Score von Zimmer ballert zwar Zimmer-typisch, ist aber sicher nicht frei von Innovationen; vor allem ist er eher Klangteppich als emphatische Komposition; an Melodien erinnert man sich weniger, dafür an eine beständige Vibration, die diese Welt durchfährt und durchzittert – wie ein straff gespannter Faden, der jeden Augenblick zerreißen könnte (obwohl dieses Bild vielleicht etwas zu filigran ist). Die Kriegstrommeln und martialischen Gesänge kündigen unheilvoll vom kommenden Verrat, während die mahnend zischenden und säuselnden Chöre der Schwesternschaft Bene Gesserit uns die Mythen dieser Welt einflößen, um aus ihrer Konstruktion dereinst Profit zu schlagen. Der Score wummert und ächzt selbst wie eine Maschine aus dieser Welt. Und dann der Kehlkopf-Gesang zur Einstimmung der imperialen Sardaukar und natürlich, last but not least, der galaktische Dudelsack im zimtigen Wüstensand! Die Musik ist kein Kritikpunkt mehr, sie ist Teil einer der beglückendsten Kinoerfahrungen meines Jahres.

Wood and Water
von Jonas Bak

Die Sequenz des Übergangs zwischen den zwei Schauplätzen dieses Filmes vollzieht sich als abstraktes Formen – und Schattenspiel und zählt für mich zu den eindrücklichsten Montagen dieses Kinojahres. Vom Tunnel verschluckt und vom Tunnel wieder ausgespuckt; nach dem Schwarzwald plötzlich die beleuchteten Hochhausfassaden Hong Kongs, die Fremde, das metallene Ungetüm, der Lärm und die Lichter. Mittendrin die Protagonistin des Filmes – die Mutter des Regisseurs. Keine Schauspielerin. Zuerst dachte ich: eine Dokumentation; war genervt vom Inszenierungsgrad, von den fotografisch kadrierten, säuberlich aneinandergereihten Einstellungen. Dann zieht mich der Film mehr und mehr rein, lässt mich teilhaben am Alltag dieser Person, von der ich nicht weiß, ob sie darstellt oder einfach nur ist. Dann höre ich auf, danach zu fragen. Dann kommt Hong Kong und die Begegnungen in der Fremde. Die Geschichte schlägt kleine Vignetten, der Film beginnt die Schicksale von Personen zu erzählen, die er wie beiläufig vom Wegesrand aufliest, die aber immer in einem Zusammenhang mit der Geschichte von Anke gedacht werden können. Diese Geschichte ist fern von meiner Lebensrealität, erzählt vom Leben nach der Arbeit, der Einsamkeit nach dem Tod und einem Sohn in der Ferne, vermag es aber das zu leisten, zu dem Kino in seinen Glanzmomenten imstande ist: mich über mich hinaus denken zu lassen.

*Im Rahmen des ArteKino Festivals ist der Film derzeit in der arte-Mediathek zu sehen.

Evangelion: 3.0 + 1.0 Thrice Upon a Time
von Hideaki Anno

Ich bin nicht ganz sicher, warum dieser Film in dieser Liste gelandet ist. Eigentlich bin ich aus Evangelion schon längst raus. Und Annos Enthusiasmus für CGI und 3-D-Animationen im traditionell zweidimensionalen Anime kann ich auch nicht ganz teilen. Der absurde Beginn hat mich dann auch gehörig verwirrt. Danach passiert aber das, was bei den meisten EVA-Filmen passiert: die Figuren rücken in den Mittelpunkt und die sehr spannende Bildkomposition von Anno, die mal experimentell, mal europäisch, mal infantil anmutet, beginnt wieder, mich zu faszinieren. Selbst für die wahnsinnigen, bunten, langen und lauten Action-Sequenzen gen Ende konnte ich mich erwärmen, weil sie immer übersichtlich genug bleiben, um Ursache und Wirkung nachvollziehen zu können. Teil 4 der Rebuild-Reihe ist sicher kein perfekter Film, vielleicht nicht einmal ein sehr guter, aber er hat mich durchaus befriedigt und glücklich aus diesem für japanische Verhältnisse nicht untypischen Remake/Reboot-Projekt entlassen.

Druk
von Thomas Vinterberg

Dies ist kein Film über Alkohol. Na ja, vielleicht ein bisschen. Die Flasche dient allerdings eher als Fluchtpunkt für eine existenzielle Krise. Saufen für den Rausch, das Vergessen, das wohlige kreisen und schweben, bis es eben nicht mehr wohlig ist, aber das kreisen bleibt – das kennen wir. Auch den pädagogischen Impetus, der in Filmen wie diesen irgendwann folgen muss, wenn sich einem der Eindruck aufdrängt, dass besoffen sein doch eigentlich ziemlich spaßig sein kann. – Kann es. Beizeiten. Aber das ist nicht der Punkt. Die magische 0,5-Promille-Grenze, die die Lehrerrunde des Filmes hier aus rein wissenschaftlichem (!) Interesse anstrebt, ist viel eher ein Mittel zur (Wieder-)Entdeckung – von dem was verloren und vergessen wurde, was verschüttgegangen ist im Trott des Alltags und der Gewohnheiten. Sich selbst neu entdecken … oder: nicht man selbst sein zu wollen. Ein schmaler Grad. Alkohol – Überraschung, Überraschung! – ist ambivalent. Neue Höhen oder neue Abgründe, im Rausch ist beides möglich. Der Film, um mal etwas Tacheles zu reden, ist sicher etwas fahrig, nicht immer ganz fokussiert (besoffen, wen man möchte, haha), aber das ist in Ordnung. Mads Mikkelsen hat ein Gesicht, in dem ich ewig suchen könnte.

*Ein wunderbares Gespräch zwischen Vinterberg, Mikkelsen und Guillermo del Toro zum Film findet ihr hier.

Honourable Mentions:
Bo Burnham: Inside von Bo Burnham
Beckett von Ferdinando Cito Filomarino
The Power of the Dog von Jane Campion
Titane von Julia Ducournau
Stowaway von Joe Penna
The Empty Man von David Prior

Niemandsland:
Pig von Michael Sarnoski
Zack Snyder’s Justice League von Zack Snyder
The Tomorrow War von Chris McKay
Godzilla vs Kong von Adam Wingard
Kate von Cedric Nicolas-Troyan
The Suicide Squad von James Gunn
America: The Motion Picture von Matt Thompson
Last Night in Soho von Edgar Wright
The Last Duel von Ridley Scott
Promising Young Woman von Emarald Fennell
Don’t Look Up von Adam McKay
The Green Knight von David Lowery
No Time to Die von Cary Joji Fukunaga

Bodensatz:
Army of the Dead von Zack Snyder
The Voyeurs von Michael Mohan
Bad Trip von Kitao Sakurai
Blood Red Sky von Peter Thorwarth
Prey von Thomas Sieben
Red Notice von viel, viel Geld
The Woman in the Window von Joe Wright

Entdeckungen meines Filmjahres

Erstsichtungen:
Gefahr und Begierde (2007) von Ang Lee
Drei Farben – Blau (1993) von Krzysztof Kieslowski
mother! (2017) von Darren Aronofsky
Blue Jay (2016) von Alex Lehmann
Die Wand (2012) von Julian Pölsler
In the Bedroom (2001) von Todd Field
Starman (1984) von John Carpenter
Sarah Silverman: A Speck of Dust (2017) von Sarah Silverman

Auch einen Blick wert:
Exotica (1994) von Atom Egoyan
Eine Jugendliebe (2011) von Mia Hansen-Løve
The Vast of Night (2019) von Andrew Patterson
The Untamed (2016) von Amat Escalante
The Lodge (2019) von Severin Fiala & Veronika Franz
Office Space (1999) von Mike Judge


Lieblingslieder

I Dream a Highway
von Gillian Welch

Für mich der inoffizielle Soundtrack zu Kelly Reichardts nachdenklichen Spielfilm Certain Women von 2016, den ich seinerzeit auch in meine Bestenliste aufgenommen habe. Bilder von weiten Flächen und endlosen Straßen sehe ich vor mir; in etwa jene kargen, kaum enden wollenden Landschaften, die auch Reichardts Protagonistinnen durchfuhren – hadernd, der Blick geht in die Ferne. Ferne, die einen mal umschließt und mal erdrückt, schwankend zwischen Erfüllung und Überforderung. 14 Minuten lang erzählt Gillian Welch in meditativen Wiederholungsschleifen und poetischsten Textzeilen von der Sehnsucht, die in der Ferne gleichermaßen schmerzhaft wie tröstlich aufgehoben sein kann. Der Song versetzt mich in eine seltsame Stimmung zwischen Lethargie und Melancholie, zugleich führt er, zumindest bei mir, zu einer tiefen Entspannung. Und vor meinem geistigen Auge fliegt die Prärie vorbei – und alles ist fein.

„I Dream a Highway Back to You“

Gillian Welch & David Rawlings

Deadhead (Live)
von Devin Townsend Project

Kontrastprogramm zu I Dream a Highway. Episch produzierte, extrem gut abgemischte Live-Performance von Devin Townsends Deadhead in der Royal Albert Hall in London. In einem Interview erzählte er einmal, dass er auf den ersten Konzerten seiner Touren ohne Rücksicht auf Verluste alles in seine Stimme lege, sodass sie sich bei den nachfolgenden Konzerten nur noch Scheiße anhöre. Glücklicherweise zählt diese Live-Aufnahme zu den früheren Tour-Auftritten. Und wenn man hört, wie er hier in die Höhen geht und dann noch einen fry drauflegt (fry heißt auf Deutsch wohl „Untertongesang“, aber davon habe ich keine Ahnung), wundert es einen schon, dass er damit überhaupt ein ganzes Konzert durchhalten kann. PS: Shoutout geht raus an den Kermit-Puppenspieler im Publikum!

Smoke Signals
von Phoebe Bridgers

Der Einfluss von Elliott Smith ist deutlich hörbar, auch wenn ich dessen Musik kaum kenne. Die Gitarrenanschläge im Refrain verströmen wohlig-schaurige Twin Peaks-Vibes, man hört die Saiten summen, darauf folgt der Einsatz der Streicher. Ein Song wie aus der Vergangenheit und das Video erst: Gothic, aber auf eine eigenartige, kalifornische Art. Bridgers Stimme schmilzt fast dahin, so zart ist sie, die Zeilen sind von bedrückender Schön- und Klarheit; die Bilder, die sie erzeugt und die Geschichten, die sie mit nur wenigen Liedzeilen zu erzählen vermag, berühren mich immer wieder. Und dann mein absoluter Höhepunkt gegen Ende, wenn sie die letzte Zeile singt; da breitet sich ihre Stimme aus, in alle Richtungen gleichzeitig und löst sich dann gleichsam atmosphärisch auf. – Wie ein Gespenst.

„How Soon Is Now“ in an 80s sedan / You slept inside of it because your dad

Phoebe Bridgers & Marshall Vore

Stay Home
von American Football

Lange, atmosphärische Tracks scheinen der gemeinsame Nenner dieser Auswahl zu sein. American Football habe ich erst dieses Jahr entdeckt. Ich liebe besonders die detaillierte Abstimmung zwischen Gitarre und Schlagzeug und die vielen Hi-Hat-Spielereien in ihren Songs. Der Stil der Band ist minimalistisch, aber effektiv. „That’s life, so social“ gehört zu den tollsten Liedzeilen überhaupt und die Wiederholung dieser Zeile macht etwas. Sie wird tiefer, gleichzeitig bekommt sie eine Komik im Sinne des Absurden und gewinnt dadurch fast schon eine befreiende Wirkung – ja, Befreiung durch Penetranz vielleicht. Oder eher im Sinne des stoischen Ideals. Wie ein Schulterzucken, ein Zug an der Zigarette und ein erleichtertes Ausatmen. Weiter geht’s.

Arbeit
von Oehl

Björn schrieb an anderer Stelle bereits über das Debüt-Album des österreichisch-isländischen Pop-Duos. Dieser Song stammt aus ihrer nachfolgenden EP 100% Hoffnung, einem Konzeptwerk zum Thema Arbeit, erschienen am Tag der Arbeit. Das Musikvideo zu Arbeit zeigt die österreichische Theater- und Filmschauspielerin Nina Fog, den Arbeitsalltag ihrer Figur und eine Begegnung zwischen ihr und einer abstürzenden Ente (?) – und Mensch, die Fog hat Augen, hinter denen verbirgt sich eine ganze Welt! Oehl verwechselt Eingängigkeit übrigens nicht mit Beliebigkeit und Pop nicht mit Plattitüden. Tiefe, halb genuschelte, halb gehauchte Textzeilen nach Rilke-Art werden unterfüttert mit groovigen Basslines und eingängigen Melodien. Mit den Themen Arbeit und Ökonomie widmet sich die Band außerdem einem musikalisch ziemlich unbestellten Feld. Den Ausbruch aus einer Arbeitswelt, die in der Arbeitsteilung sinnlos geworden ist, inszeniert die Band im Video als solidarischen Flash mob und große Gruppenumarmung. Der Blick geht hoch in die Wolken, wo die Vögel gen Süden fliegen – und das ist nicht kitschig.

Es ist eine Gabe, sich zu übergeben / Und über die Jahre nicht umzufall’n

Ariel Oehl, Hjörtur Hjörleifsson & Marco Kleebauer


Lieblingsbücher

Auf Goodreads habe ich dieses Jahr damit begonnen, meine Lektüren aufzuzeichnen.

The Secret History
von Donna Tartt

Das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe. Ich hatte einen FAZ-Artikel über die Subkultur bzw. die Ästhetik von Dark Academia auf TikTok gelesen und darin wurde dieses Buch referenziert. Donna Tartt war 29 Jahre alt als sie mit diesem Roman 1992 debütierte. Seitdem hat sie lediglich zwei weitere Bücher veröffentlicht. The Secret History spielt an einem Liberal Arts College in Vermont, das dem College nachempfunden ist, das Tartt in den Neunzigerjahren besucht hat – gemeinsam mit Bret Easton Ellis übrigens, mit dem sie befreundet war (oder nach wie vor ist, keine Ahnung). Die Geschichte handelt von einem Mord an einem Studenten des Colleges, den Ereignissen, die dazu führen und die Auswirkungen, die dieser auf die Gemeinschaft der Mörder hat – u.a. unseren Protagonisten Richard Papen, aus dessen Perspektive die Geschichte als Ich-Erzählung geschildert ist. Tartts Stil ist schwierig zu beschreiben, ich schätze, ich habe nicht genügend klassische Literatur gelesen, um ihre Vorbilder und Einflüsse erkennen zu können. Ich empfand ihren Stil als sehr elegant, sehr klug und belesen, gelegentlich gehoben (erkennbar an Vokabeln und Umgangssprache, die ich nachschlagen oder mir aus dem Kontext erschließen musste), aber immer ökonomisch, also ganz auf die Erzählung bzw. den Plot fokussiert. Die Figuren dieses Romans sind fast ausschließlich gut betuchte, Kette-rauchende und saufende Altgriechisch-Studenten, trotzdem war ich an ihrem Schicksal interessiert. Das liegt auch daran, dass durch die gewählte Perspektive viele Fragen lange offen bleiben und durch den großen Fokus auf das Danach des Mordes wieder neue, fast schon soziologische Fragestellungen aufgeworfen werden.

“Does such a thing as ‚the fatal flaw,‘ that showy dark crack running down the middle of a life, exist outside literature? I used to think it didn’t. Now I think it does. And I think that mine is this: a morbid longing for the picturesque at all costs.”

Donna Tartt, The Secret History

A Storm of Swords
von George R.R. Martin

Da dies der dritte Band einer Reihe ist, scheint es überflüssig zu erwähnen, dass mir die Vorgänger allesamt gefallen haben. George R.R. Martin ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, den ich nicht nur aufgrund der tollen, detaillierten Welt von Westeros/Essos und ihrer Figuren gerne lese, sondern auch aufgrund einer Sprache, die sich nicht nur als Mittel zum Zweck (Plot) versteht, sondern als Mittel poetischen Ausdrucks. Vor allem erstaunt es mich immer wieder, mit welchem Einfühlungsvermögen dieser untersetzte, bärtige Herr aus Santa Fe das Innenleben von Figuren wie Daenerys, Arya oder Sansa zu schildern vermag. Oft lodert die Magie dieser Welt nicht in den großen Schlachten und machiavellistischen Dialoggefechten auf, sondern in der Poesie einer Sprache, für die die Figuren eben nicht nur Schachfiguren, sondern liebgewonnene Gefährten sind.

“It all goes back and back,“ Tyrion thought, „to our mothers and fathers and theirs before them. We are puppets dancing on the strings of those who came before us, and one day our own children will take up our strings and dance in our steads.”

George R. R. Martin, A Storm of Swords

Honourable Mentions:
Dune von Frank Herbert
Südlich der Grenze, westlich der Sonne von Haruki Murakami


*Headerbild: Y. Chaki, The Four Seasons, Öl auf Leinwand, 335cm x 670cm, 1988: Royal Bank of Canada