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Magazin für Filmkritik

Die Angst vor dem Anderen in „The Blair Witch Project“

In October of 1994, three student filmmakers disappeared in the woods near Burkittsville, Maryland while shooting a documentary. A year later their footage was found.

Sánchez, 0:44 Min.

Mit dieser Texttafel beginnt der 1999 erschienene Found-Footage-Horrorfilm The Blair Witch Project. Damit verweist der Film nicht nur auf die eigene narrative Konstruktion, sondern auch auf den elaborierten Marketing-Coup, der ihn begleitete. Das Phänomen, das der Film zu seinem Erscheinen darstellte, ist dabei nicht ohne die Mechanismen des damals noch jungen Internets zu verstehen: „By all accounts what has made the film so successful is the Internet. Its Web site, www.blairwitch.com, blurred the line between reality and fiction“[1], bemerkte der Filmkritiker Bernard Weinraub in einem Artikel zum Erscheinungsjahr des Filmes.

Die Webseite zum Film, welche nie als fiktiv ausgewiesen wurde, war bis 2021 unverändert online. Auf ihr findet man eine ausführliche Auflistung vermeintlich historischer Ereignisse rund um den fiktiven Ort Blair im US-Bundesstaat Maryland und die Legende der Blair-Hexe. Es wird von einer Frau namens Elly Kedward erzählt, die 1785 der Hexerei schuldig gesprochen und von den wütenden Dorfbewohnern aus Blair in den nahegelegenen Black Hills Forest verbannt wurde. Es wird auf ein historisches Buch mit dem Titel The Blair Witch Cult von 1809 verwiesen, das die Hintergründe des Hexenkults beleuchtet. Darin ist von verschwundenen Kindern und erschreckten Dorfbewohnern die Rede, die Blair schließlich voller Angst verließen. Und es wird von drei Filmstudenten (Heather Donahue, Michael C. Williams und Joshua Leonard) berichtet, die Burkittsville (ehemals Blair) 1994 besuchten, um dort eine Dokumentation über den Hexenmythos zu drehen, aber nur wenige Tage nach Drehbeginn spurlos verschwanden.[2]

Nichts von alledem ist natürlich wahr. Der gesamte Blair-Mythos besitzt auch keinen historisch wahren Kern – abseits der Tatsache, dass es in den USA Hexenprozesse gab, wobei die Salem Witch Trials zwischen 1692 und 1693 das wohl prominenteste Beispiel darstellen dürften.[3] Die geschilderten Ereignisse und die Namen der Personen (mit Ausnahme der Filmemacher, die zur höheren Glaubwürdigkeit unter ihren bürgerlichen Namen im Film auftraten) sind allesamt fiktiv und entstammen der Imagination des Regie-Duos Eduardo Sánchez und Dan Myrick.

„We designed the film to be, from beginning to end, a completely real experience. We didn’t want anything in it to give away the fact that it wasn’t real“[4], erklärt Sánchez ihre Herangehensweise an den Film. Dabei umfasst(e) die „Erfahrung“ des Filmes weitaus mehr als die Webseite, die neben der detaillierten Blair-Mythologie auch unzählige Bilder und Interviews zum Verschwinden der Filmemacher beinhaltet[5], sondern auch eine eigene TV-Dokumentation, die ebenfalls von Sánchez und Myrick verantwortet wurde. In Curse of the Blair Witch wird im Stile einer Infotainment-Doku abermals der Blair-Mythos behandelt, aber auch näher auf die Hintergründe der verschwundenen Filmemacher und ihr Privatleben eingegangen. Dazu treten verschiedene Personen aus deren näheren Umfeld als klassische Talking Heads im Film auf. Wir sehen beispielsweise den vermeintlichen College-Professor der Filmstudenten sowie den Großvater und die beste Freundin der verschwundenen Heather. Sie alle berichten von der Zeit vor dem Verschwinden – den Drehplanungen, den Filmprojekten an der Uni, persönlichen Details aus ihren Leben. Dabei streut die Mockumentary immer wieder Ausschnitte aus dem Kinofilm sowie einer fiktiven Nachrichtensendung ein, in der über die Suchaktion nach dem vermissten Filmteam berichtet wird.

Die für den Sci-Fi-Channel produzierte Fake-Doku erweist sich dabei als Teil eines genialen Marketing-Coups, der die fiktiven Rahmenbedingungen für den gleichsam fiktiven Kinofilm unter das Vorzeichen völliger Authentizität stellte. Ein Journalist verglich Curse of the Blair Witch hinsichtlich seines Erfolges als mediales Täuschungsmanöver darum mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern.[6] Das mag etwas übertrieben sein, dennoch ist die Marketing-Kampagne für den Film als außerordentlicher Erfolg zu werten, da sie sich sowohl das Internet als neue Informationsquelle, wie auch die filmischen Mittel der Fake-Doku effektiv für sich zu Nutze machte. „Heated discussions have broken out on the Internet about whether the movie is fiction or a documentary. The reaction to the Web site has been powerful; there have been nearly 80 million hits on it“[7], heißt es in einem Artikel der Chicago Tribune aus dem Erscheinungsjahr.

Als The Blair Witch Project schließlich im Januar 1999 auf dem Sundance Film Festival seine Premiere feierte, wurden die Vertriebsrechte noch in der Nacht der Vorführung von einem Partner der Produktionsfirma Artisan Entertainment gekauft und der Film erhielt eine Kinoauswertung für das Jahr ’99.[8] An den Kinokassen war der ursprünglich mit 60.000 US-Dollar budgetierte Film[9] anschließend ein riesiger Erfolg.

Hauptdarstellerin Heather Donahue merkte im Rahmen der San Diego Comic Con im August 1999 zum Film an: „I think that one of the things about this movie is that it’s already started to play into urban legends and it becomes a weird pop-cultural phenomenon for some reason.“[10] Urbane Legenden sind nach Thomas Grüter „kurze Erzählungen unbekannten Wahrheitsgehaltes“[11] und zählen zu den Verschwörungslegenden. Diese dienen laut Grüter zum einen als Fixpunkte für Verschwörungstheorien aller Art und tragen zum anderen zu einer Verstärkung des Verschwörungsglaubens bei. Dieses bezeichnet das Misstrauen gegenüber einer bestimmten Gruppierung und dient als Nährboden für verschwörungstheoretische Erzählungen.[12] Als eine solche Urbane Legende wird auch die Geschichte von der Blair-Hexe im Film eingeführt und durch verschiedene filmische und narrative Strategien authentifiziert und legitimiert.

Realitätsfernsehen

Der Film ist in seiner gestalterischen und narrativen Konstruktion Pseudo-Dokumentation und Behind-the-Scenes-Feature gleichermaßen. Wir sehen also zum einen die Dreharbeiten und ihre Hintergründe[13], aber auch ihr Resultat[14]. Dadurch ist von Anfang an ein selbst-kommentierendes, meta-reflektives Element im Film enthalten, das sich beizeiten auch verbal expliziert[15]. Die Wackelkamera, die Point-of-View Perspektive, die Unschärfen im Bild, die direkte Ansprache an das Publikum und die Kommunikation mit dem Kameramann[16] vermitteln einem das Gefühl, man blicke direkt hinter die Kulissen; als seien die Figuren ganz echt und nahbar – gerade deshalb, weil der Kontrast zu den Dreharbeiten gesetzt ist, wo Heather vor der Kamera weniger echt und weniger nahbar ist, sobald sie in die Rolle der Moderatorin schlüpft. „Hinter der Kamera“, darin liegt die Ironie, weil gerade dort der Fokus des Filmes liegt, können wir die Figuren scheinbar ganz privat erleben.

Die zwanglose Kommunikation und die Spontaneität der Bilder[17] erinnert an die Ästhetik von Handyvideos – eine Ästhetik, die uns heute sehr vertraut ist. Dies gilt es hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte zu beachten: sowohl das Netz und seine Möglichkeiten als auch die Found-Footage-Ästhetik waren einem Großteil des Kinopublikums Ende der Neunzigerjahre unvertraut, wenngleich das Konzept von Found-Footage Film-historisch nicht gänzlich neu war.[18] Diese Konfrontation mit dem Unvertrauten, Uneindeutigen kann man heute nur noch schwerlich nachempfinden, bildet aber eine Strategie des Filmes, Unbehagen zu evozieren und damit eines der wirksästhetischen Versprechen des Genres einzulösen.

“It seems crazy now […] but there was some confusion over whether Blair Witch was a real documentary when it came out. And even those who knew it was a mockumentary were sucked into the authenticity of its grainy, seesawing images.“[19], bemerkt der Filmkritiker Jamie Graham vom britischen Total Film Magazin zum Blair Witch-Phänomen. Die Macher von The Blair Witch Project profitierten dabei von der Vorarbeit des Reality-TV, das die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion für ein breites Fernsehpublikum kontinuierlich neu versetzte und es dadurch in einer beständigen ästhetischen Zweideutigkeit[20] beließ – zwischen Ernst und Unernst, Distanz und Versenkung, Fake und Fakt.

Der Siegeszug des Reality-TV in den Neunzigerjahren leistete gewissermaßen die Vorarbeit für ein Kino, das die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem zunehmend verzerrte. Authentizität wird im Genre des Reality-TV als ästhetische Strategie lesbar, als eine Form emotionaler Überwältigung.[21] Die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion, so konstatieren Studien aus der Zeit, fiel dem Publikum folglich zunehmend schwerer.[22] Wirklichkeit und Fiktion diffundierte um die Jahrtausendwende vor allem in populären Sendungen wie Big Brother, die in Deutschland im Februar 2000 mit ihrer ersten Staffel an den Start ging. Der Medientheoretiker Boris Groys schrieb damals zur großen Popularität der Sendung:

Die Menschen sehen diese Sendung, weil diese Sendung sich selbst anklagt, weil sie sich ‚Big Brother‘ benennt, weil sie Manipulation offenlegt. Was die Menschen genießen, genauso wie bei der ‚Truman Show‘ oder bei ‚Matrix‘, ist die Selbstanzeigeerstattung des Mediums, die Rituale der Selbstentlarvung und der Selbstdemaskierung, die dort stattfinden.

Groys, S. 96.

Das Fernsehpublikum begreift Groys demnach nicht als Opfer medialer Manipulationsstrategien, sondern als Eingeweihte, die um die Falschheit des Gezeigten wissen und sie trotzdem, aus ironischer Distanz und ganz im Sinne von Fox Mulders I want to believe, genussvoll rezipieren.

Am Anfang von The Blair Witch Project werden immer wieder Passanten und Einwohner von Burkittsville nach der Blair-Hexe gefragt.[23] Diese erklären in kurzen Interviewsituationen unter anderem, dass sie etwas darüber im Fernsehen gesehen hätten oder dass ihnen ihre Großmutter einmal davon erzählte. Ihre authentischen Zeugenaussagen grundieren die Legende. Mit dem Rückgriff auf ihre Erinnerung erschaffen sie gleichsam den fiktiven Blair-Mythos. Dies ist eine geschickte Art und Weise, sich das Konzept des Dokumentarischen narrativ zu Nutze zu machen, da durch den vorgetäuschten Prozess des Erinnerns der fiktive Gegenstand der Erinnerung real erscheint. Das Vergessen und Nicht-Erinnern und Nicht-Sprechen-Wollen rückt der Film immer wieder in die Nähe eines Verdrängungsmechanismus, wodurch der Mythos zusätzlich real erscheint. An einer Stelle werden zum Beispiel zwei Angler zur Hexe befragt, woraufhin sich die widerstreitenden Positionen zum Mythos zeigen. Während der eine an die Existenz der Hexe glaubt, ist der andere skeptischer. Es gibt also nicht nur eine Historie zur Blair-Hexe, es gibt auch Debatten über die Auslegung und Deutung dieser fiktiven Historie. Diese Historisierung authentifiziert gewissermaßen den Film, der dadurch gleichsam anschlussfähig wird für die tatsächlichen historischen Verschwörungserzählungen, die sich um das Hexenstereotyp anordnen.

Hexenverfolgung als Krisenphänomen

In Europa kam es zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zu etwa 100.000 Gerichtsprozessen, die auf dem Stereotyp der Hexe als „Schadensstifterin und Teufelsdienerin“ basierten[24]. „Auf dem Höhepunkt der Prozesstätigkeit im 16. und 17. Jahrhundert waren weite Teilen des Heiligen Römischen Reiches, Frankreichs, Spaniens, Italiens, Skandinaviens und Osteuropas […] vom mörderischen Hexenbrennen betroffen“, schreibt der Historiker Werner Tschacher. Laut Tschacher fallen die Konjunkturphasen der Hexenverfolgung oftmals in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen. Danach sind auch die Verschwörungstheorien zum Hexenstereotyp als Krisenphänomene lesbar[25].

Die Theorien selbst stellen dabei Weiterentwicklungen antisemitischer Verschwörungserzählungen dar, die unter anderem in den europäischen Judenpogromen der Jahre 1348 bis 1350 Ausdruck fanden. Diese basierten auf dem „weit verbreiteten Gerücht, die Juden hätten durch Brunnenvergiftung den Ausbruch der Pest verursacht“, um dadurch die Christenheit auszurotten[26]. Das Hexenstereotyp, im Gegensatz zum Judenstereotyp, war nicht konfessionell gebunden und darum als Mittel zur Denunziation umso besser geeignet. Zudem lag der Hexenverfolgung kein starres Schemata zugrunde – alle Geschlechter und alle Schichten konnten zum Zielpunkt von Hexereivorwürfen werden. Erst im 15. Jahrhundert traten verstärkt Frauen in den Fokus der kirchlichen Obrigkeit und der abergläubischen Bevölkerung.

In den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hexenprozessen waren zwischen 75 bis 80 Prozent der Angeklagten weiblich. Ausnahmen bilden Länder wie Island, wo 90 Prozent der Angeklagten Männer waren. Die Vorwürfe, die zu einer Anklage führten, umfassten alle erdenklichen Formen von weißer und schwarzer Magie. Neben verschiedenen Formen von Schadenszaubern, z.B. zur Schädigung der Ernte oder zur Brunnenvergiftung, standen der Hexenflug, die den Zaubereiprozessen entlehnte Tierverwandlung oder der wiederum der pseudowissenschaftlichen Dämonologie entlehnte Teufelspakt zur Anklage[27]. Die von Thomas von Aquin beschriebene Teufelspaktlehre war somit anschlussfähig für Hexerei-bezogene Verschwörungstheorien aller Art[28].

Als Nachweis für die Existenz von Hexen dienten Zeugenaussagen, nach Folter gemachte Geständnisse von Verdächtigen sowie öffentliche Gerüchte. Die Hexenlehre als Denksystem verwies dabei beständig auf sich selbst zurück, ohne sich infrage stellen zu müssen. Bis ins 16. Jahrhundert wurde Hexerei oftmals als häretisches Delikt aufgefasst, 1436 wurde sie aber auch schon als Apostasie gewertet (als Hochverrat an der weltlichen und göttlichen Majestät) und darum mit der Todesstrafe belegt[29]. Die „Verwissenschaftlichung der Dämonologie an den Universitäten“, der Aufbau der Hexenlehre, aber auch die Erfindung des Buchdrucks ermöglichten infolge eine rasche Verbreitung der Hexenlehre, die „keine bloße Vorläuferin oder Sonderform, sondern selbst eine vollständig entwickelte, moderne Züge aufweisende Verschwörungstheorie“[30] darstellt.

Der „Buchdruck“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts war die Erfindung und Verbreitung des World Wide Web Anfang der Neunzigerjahre[31]. Dieses stellte sich durch seinen niedrigschwelligen Zugang und das Fehlen zentralisierter Gatekeeper allerdings schon bald als eine Art Supermedium für Verschwörungstheorien heraus[32].

Die Erzählung vom World Wide Web als einen Raum totaler Freiheit, als transgressives, kooperatives Projekt, bei dem jeder, ganz im Sinne der we media[33], selber zum Produzenten und Publizisten werden kann, ist darum mindestens unvollständig. Die Träume der Open-Source-Bewegung, das Graswurzel-Medium Internet zum basisdemokratischen Utopia zu kultivieren, in denen die Netizens (Netzbürger) Teil einer großen sozialen Kommune[34] oder auch eines „globalen Gehirns“ “[35] sein können und jeder eine Stimme hat, erwiesen sich vielfach als große Illusion. Statt der Überwindung von Informationsmonopolen[36] und einer damit einhergehenden Machtverschiebung weg von traditionellen Mediensystemen hin zum Einzelnen, etablierten sich abgeschottete Echokammern, in der jede Information, jeder alternative Fakt und jede noch so absurde Verschwörungserzählung einen willfährigen Abnehmer fand. Denn, so muss man konstatieren: der Aberglaube war nie ganz verschwunden, er war nur weniger sichtbar geworden.

In einer Umfrage, die 1988 unter US-Amerikanern durchgeführt worden war, gaben 66 Prozent der Befragten an, dass sie die physische Existenz des Teufels für möglich halten[37]. In The Blair Witch Project verkörpert sich diese komplizierte Gemengelage Ende der Neunzigerjahre in seiner vielschichtigen narrativen und medialen Konzeption. Sie weist der Film weit über sich hinaus; unter anderem auf das, was Film und Verschwörungstheorie gemeinsam haben: die Hexe als das ultimative Andere.

Die Hexe als das Andere

Wir sehen im Film nie eine Bedrohung, sondern immer nur die Indizien, die auf sie verweisen; die Geschichten, die sich über sie erzählt werden, die Spuren, die sie hinterlässt oder die Geräusche, die sie verursacht. Der Film erweist sich als ein Spiel mit Ängsten, die gleichermaßen unbezeichnet und unaufgelöst bleiben. Diese Vorgehensweise ist vor allem im Kontext des Horrorgenres interessant und mit Aussicht auf den Verschwörungsdiskurs lehrreich, wenn man den Angstbegriff theoretisch in den Blick nimmt.

Der Soziologe Max Dehne unterscheidet zwischen den Begrifflichkeiten Angst und Furcht. Furcht sei der allgemeinere Begriff und beschreibe beispielsweise die Furcht vor konkreten Gefahren, Angst dagegen beschreibe vor allem das unmittelbare, körperliche Gefühl; den Zustand selbst.[39] Als den eigentlichen Erfahrungsgegenstand der Angst identifiziert Dehne über die theologische Philosophie von Søren Kierkegaard die Unbestimmtheit.[40] Zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt er über die psychoanalytische Perspektive von Sigmund Freud, der zwischen der Angst (gekennzeichnet durch Unbestimmtheit) und Furcht (gekennzeichnet durch einen Objektbezug) unterschied.[41]

When the culture is in turmoil, for some reason audiences flock to the horror film. Perhaps, during these times of great, generalized social anxiety, the horror film functions to shock its audience out of their anxiety. Anxiety tends to promote a sense of helplessness; fear, on the other hand, provides an impetus for change.

Phillips, S. 9

Dieser Mechanismus lässt sich auf unsere prototypische Figur des „Verschwörungsgläubigen“ übertragen. Dieser überführt durch die Konstruktion der Verschwörungstheorie die eigene Angst in Furcht und befreit sich damit gleichsam aus der quälenden Ungewissheit. Dieser Überführungs- oder Transformationsprozess setzt die Anwesenheit eines Anderen als Bezugspunkt der Furcht voraus. Dieses Andere ist zunächst einmal das, was nicht das Ich ist.

Its psychoanalytic significance resides in the fact that it functions not simply as something external to the culture or to the self, but also as what is repressed (though never destroyed) in the self and projected outward in order to be hated and disowned.

Wood, S. 27

Die Überführung der Angst in Furcht, die zugleich eine Befreiung aus der Ungewissheit in die Gewissheit bedeutet, manifestiert sich im Verschwörungsglauben. Dieser weist das Andere aus, macht es sicht- und damit beherrschbar, er bezeichnet es – als Jude, als Ausländer, als Elite oder als Hexe. Dieser Verwandlungsprozess der eigenen Ängste in konkretisierbare Furcht beschreibt jedoch keine Pathologie, sondern vielmehr allgemeingültige sozialpsychologische Prozesse[42], die zum Beispiel im Rahmen der Theorie des (kollektiven) Selbstwertschutzes erforscht werden.[43] Demnach schützen wir unseren Selbstwert beispielsweise dadurch, dass wir die grundlegenden Vergleichsdimensionen verzerren („Vergleich nach unten“)[44], den sozialen Vergleich ganz vermeiden oder die Vergleichspersonen abzuwerten versuchen (defensive Attribution).[45] In Gruppenzusammenhängen ist es danach typisch, die eigene Gruppe aufzuwerten und die Anderen abzuwerten.[46] Heterodoxe und orthodoxe Verschwörungskonstruktionen müssen vor diesem Hintergrund als selbstwertdienliche Verzerrungen der Realität verstanden werden.[47]

Was The Blair Witch Project 1999 also zu einem solch durchschlagenden Erfolg machte, kann als „resonant violation“[48] bezeichnet werden. Einerseits knüpfte das Phänomen an bereits vorhandene kulturelle Trends an (das Internet als Neuland) und stellte einen Resonanzboden dafür bereit (die Webseite zur Vermarktung), zum anderen brach es die Regeln herkömmlicher Vermarktung, indem es das Spiel mit der Fiktion nie offenlegte und sogar bis in den filmischen Prozess und sein Resultat hinein fortsetzte. Die resonant violation beschreibt also die Gratwanderung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Fremden und Neuen – der vertraute Hexenglaube verbindet sich im Blair-Witch-Phänomen mit den unvertrauten virtuellen Räumen des Web und findet dort neuen Nährboden. Damit erzählt er gleichermaßen von der Verführbarkeit des Kinos, des Internets und schließlich unserer eigenen psychologischen Manipulationsanfälligkeit.


Anmerkung:
Dieser Text ist ein Auszug aus meiner Masterarbeit, die ich in Visueller Anthropologie geschrieben habe. Gegenstand der Arbeit waren verschiedenen Filme aus den Neunzigerjahren, anhand derer ich eine Ästhetik des Verschwörungsdenkens zu identifizieren suchte. Das Kapitel zu The Blair Witch Project ist Bestandteil des praktischen Teils meiner Arbeit und folgte auf 55 Seiten Kontext und Theorie. Ich habe einige erklärende Passagen eingefügt, um diesen fehlenden Kontext zu kompensieren. Die Einzelnachweise habe ich zudem etwas reduziert und gebündelt. JFK (1991) von Oliver Stone sowie Enemy of the State (1998) von Tony Scott habe ich bereits vor dem selben theoretischen Hintergrund betrachtet. Abschließen werde ich die Reihe mit The Matrix (1999) von den Wachowskis. Sprachlich habe ich mich dagegen entschieden, die Texte komplett kernzusanieren, da ich denke, dass die Form und der Inhalt hier eng miteinander verbunden sind. Darum ist die Sprache sicherlich etwas wissenschaftlicher als sonst, die vermittelten Gedanken für die eine oder andere aber vielleicht dennoch interessant.

Header und The Blair Witch Project-Galerien: © Artisan Entertainment | Truman Show © Paramount Pictures | Big Brother © Banijay Group

Einzelnachweise:
[1] Weinraub
[2] Vgl. >https://www.blairwitch.com/legacy.html<
[3] Baker, Emerson W. (2015): A Storm of Witchcraft. The Salem Trials and the American Experience. New York: Oxford University Press. S. 14
[4] Klein, Joshua (1999): The Blair Witch Project. AVClub, 22. Juli, 1999. >https://www.avclub.com/the-blair-witch-project-1798208015<
[5] Unter dem Reiter „Evidence“ finden sich Bilder von den gefundenen Beweismitteln: der geparkte Pkw von Joshua Leonard, die Audiokassetten, die Filmbüchsen und die Tasche, in der diese enthalten waren, sowie Interviews mit einem Anthropologie-Professor und einem Privatermittler. Unter dem Reiter „Search“ finden sich Bilder von den Suchaktionen, ein Vermissten-Plakat und eine Übersicht der am Fall beteiligten Ermittler. Unter dem Reiter „Interviews“ finden sich Interviews mit der Mutter Heather Donahues, einem Privatermittler oder auch Videoaufnahmen von aufdringlichen Reportern, die die Eltern der Vermissten befragen. Vgl. Blair Witch Webseite Archive: >https://web.archive.org/web/20210402102423/https://www.blairwitch.com/project/main.html<
[6] Burr, Ty (1999): Curse of the Blair Witch. Entertainment Weekly, 29. Oktober, 1999. >https://ew.com/article/1999/10/29/curse-blair-witch-2/<
[7] Weinraub
[8] Young, John (2009): ‚The Blair Witch Project‘ 10 years later: Catching up with the directors of the horror sensation. Entertainment Weekly, 09. Juli, 2009. >https://ew.com/article/2009/07/09/blair-witch/<
[9] Durch Nachdrehs und Nachbearbeitungen belief sich das Budget schlussendlich auf 500.000 bis 750.000 US-Dollar. Vgl. Young
[10] Anderson, Philip (1999): Heather Donahue – Blair Witch Project. >https://web.archive.org/web/20100330204910/http://www.kaos2000.net/interviews/heatherdonohue/heatherdonohue.html<
[11] Grüter, Thomas (2010): Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer. Wie Verschwörungstheorien funktionieren. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag. S. 62
[12] Ebd. S. 47-49
[13] Sánchez, 3:28 Min.
[14] Ebd. 4:20 Min.
[15] Michael fragt sich an einer Stelle, warum sie alles, inklusive ihrer Streitigkeiten, filmen müssten, worauf Heather erklärt, dass sie eine Dokumentation drehen. Michael erwidert darauf: „Not about us getting lost, we are making a documentary about a witch.“. Wie schon die Titelkarten verraten, ist es jedoch ein Film, der von ihrem Verschwinden handelt. Vgl. 21:18 Min.
[16] Ebd. 1:08 Min.
[17] Ebd. 2:25 Min.
[18] Filme, die die Found-Footage-Ästhetik als Erzählmethode verwendeten, reichen bis in die frühen 1960er-Jahre zurück. Siehe exemplarisch: Clarke, Shirley (1961): The Connection. 110 Min. Film.
[19] Barber, Nicholas (2015). Was The Blair Witch Project the last great horror film? BBC Culture, 30. Oktober, 2015.>https://www.bbc.com/culture/article/20151030-was-the-blair-witch-project-the-last-great-horror-film<
[20] Hügel, Hans-Otto (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 2, Nr. 1. Marburg. S. 119-141.
[21] Seidler, John David (2016): Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld: transcript Verlag. S. 258
[22] Ebd. S. 258
[23] Sánchez, ab 5:19 Min.
[24] Tschacher, Werner (2001): Vom Feindbild zur Verschwörungstheorie: Das Hexenstereotyp. In: Verschwörungstheorien aus psychologischer und aus historischer Sicht. In: Verschwörungstheorien: anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück: fibre Verlag. S. 49
[25] Tschacher, S. 49-50
[26] Tschacher, S. 53-54
[27] Tschacher, S. 57-60
[28] Tschacher, S. 62
[29] Tschacher, S. 64-65
[30] Tschacher, S. 74
[31] Zur Geschichte des Internets siehe auch: Naughton, John (1999): A Brief History of the Future. The origins of the Internet. London: Weidenfeld & Nicolson.
[32] Seidler, John David (2016): Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld: transcript Verlag. S. 249
[33] Rötzer, Florian (2007): Das Globale Gehirn – Eine Leitbotschaft. In: Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, hrsg. Kai Lehmann, Michael Schetsche. Bielefeld: transcript Verlag. S. 12
[34] Hauben, Michael, Ronda Hauben (1997): Netizens. On the History and Impact of Usenet and the Internet. Los Alamitos: IEEE Computer Society Press. S. 5
[35] Rötzer, S. 12
[36] Rötzer, S. 13
[37] Tschacher, S. 68
[38] Dehne, Max (2015): Soziologie der Angst – Konzeptuelle Grundlagen, soziale Bedingungen und empirische Analysen. Wiesbaden: Springer Fachmedien.S. 23
[39] Ebd. S. 27
[40] Ebd. S. 30
[41] Ebd. S. 30
[42] Pommrenke, Sascha (2014): Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 314
[43] Ebd. S. 312
[44] Bierhoff, Hans-Werner (2006)6: Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. S. 10-14
[45] Spektrum/Lexikon der Psychologie: >https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/selbstwertschutz/14007<
[46] Pommrenke, S. 312
[47] Ebd. S. 314

[48] Phillips, S. 8

Quellen:
Anderson, Philip (1999): Heather Donahue – Blair Witch Project. >https://web.archive.org/web/20100330204910/http://www.kaos2000.net/interviews/heatherdonohue/heatherdonohue.html<
Baker, Emerson W. (2015): A Storm of Witchcraft. The Salem Trials and the American Experience. New York: Oxford University Press.
Barber, Nicholas (2015). Was The Blair Witch Project the last great horror film? BBC Culture, 30. Oktober, 2015. >https://www.bbc.com/culture/article/20151030-was-the-blair-witch-project-the-last-great-horror-film<
Burr, Ty (1999): Curse of the Blair Witch. Entertainment Weekly, 29. Oktober, 1999. >https://ew.com/article/1999/10/29/curse-blair-witch-2/<
Dehne, Max (2015): Soziologie der Angst – Konzeptuelle Grundlagen, soziale Bedingungen und empirische Analysen. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Groys, Boris (2000): Der Verdacht ist das Medium. In: Endstation Sehnsucht. Kapitalismus und Depression I, hrsg. Carl Hegemann. Berlin: Alexander Verlag.
Grüter, Thomas (2010): Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer. Wie Verschwörungstheorien funktionieren. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag.
Hauben, Michael, Ronda Hauben (1997): Netizens. On the History and Impact of Usenet and the Internet. Los Alamitos: IEEE Computer Society Press.
Hügel, Hans-Otto (1993): Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 2, Nr. 1. Marburg.
Klein, Joshua (1999): The Blair Witch Project. AVClub, 22. Juli, 1999. >https://www.avclub.com/the-blair-witch-project-1798208015<
Myrick, Daniel, Eduardo Sánchez (1999): Curse of the Blair Witch. Orlando, FL: Haxan Films. 44 min. Film.
Phillips, Kendall R. (2005): Projected Fears. Horror Films and American Culture. Westport: Praeger Publishers.
Pommrenke, Sascha (2014): Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Rötzer, Florian (2007): Das Globale Gehirn – Eine Leitbotschaft. In: Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, hrsg. Kai Lehmann, Michael Schetsche. Bielefeld: transcript Verlag.
Tschacher, Werner (2001): Vom Feindbild zur Verschwörungstheorie: Das Hexenstereotyp. In: Verschwörungstheorien aus psychologischer und aus historischer Sicht. In: Verschwörungstheorien: anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück: fibre Verlag.
Weinraub, Bernard (1999): ‚BLAIR WITCH‘ PROCLAIMED FIRST INTERNET MOVIE. Chicago Tribune, 17. August, 1999. >https://www.chicagotribune.com/news/ct-xpm-1999-08-17-9908170065-story.html<
Wood, Robin (1979): The American nightmare. Horror in the 70s. In: The American Nightmare: Essays on the Horror Film. Toronto: Festival of Festivals.
Sánchez, Eduardo, Daniel Myrick (1999): The Blair Witch Project. Santa Monica, CA: Artisan Entertainment. 81 Min. Film.
Seidler, John David (2016): Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld: transcript Verlag.

Young, John (2009): ‚The Blair Witch Project‘ 10 years later: Catching up with the directors of the horror sensation. Entertainment Weekly, 09. Juli, 2009. >https://ew.com/article/2009/07/09/blair-witch/<