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Magazin für Filmkritik

Die Wahrheit … und nichts als die Wahrheit – „JFK“ von Oliver Stone

Vorbemerkung

Dieser Text ist ein Auszug aus meiner Masterarbeit, die ich im Fach Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie mit dem Schwerpunkt Visuelle Anthropologie geschrieben habe. Gegenstand der Arbeit waren verschiedenen Filme aus den Neunzigerjahren, anhand derer ich eine Ästhetik des Verschwörungsdenkens zu identifizieren suchte. Das Kapitel zu JFK leitete den praktischen Teil meiner Arbeit ein und folgte auf 55 Seiten Kontext und Theorie. Ich habe einige erklärende Passagen eingefügt, um diesen fehlenden Kontext zu kompensieren. Die Einzelnachweise habe ich zudem etwas reduziert und gebündelt. In den kommenden Monaten werde ich weitere Filme aus der Arbeit vor dem selben theoretischen Hintergrund betrachten. Dazu zählen Enemy of the State (1998) von Tony Scott, The Blair Witch Project (1999) von Eduardo Sánchez und Daniel Myrick sowie The Matrix (1999) von den Wachowskis. Sprachlich habe ich mich dagegen entschieden, den Text komplett kernzusanieren, da ich denke, dass die Form und der Inhalt in diesem Fall eng miteinander verbunden sind. Darum ist die Sprache sicherlich etwas wissenschaftlicher als sonst, die vermittelten Gedanken für die eine oder andere aber vielleicht dennoch interessant.

Eine Analyse in 2 Szenen

Allein bis 1992 erschienen über 2000 Bücher, die die Ermordung des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy zum Thema hatten. Nur ein Jahr nach der Premiere von JFK standen vier solcher Werke auf den amerikanischen Bestsellerlisten. Hinzu kommen unzählige Websites, Diskussionsforen, journalistische Artikel, Haus-, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten sowie dutzende von Kino- und Fernsehproduktionen, die sich dem Anschlag auf Kennedy, mal mehr oder weniger seriös, widmeten. Obwohl in ihren Schwerpunkten variierend, steht am Grunde dieser vielzähligen Auseinandersetzungen stets die selbe Frage:

Was ist damals – am Freitag des 22. Novembers 1963 in Dallas, Texas am Dealey Plaza – wirklich geschehen?

1976 glaubten 81 Prozent aller US-Amerikaner, dass für die Ermordung Kennedys eine Verschwörung verantwortlich gewesen sei; dass also mehr Personen als der berühmt gewordene und selbst einem Attentat zum Opfer gefallene Lee Harvey Oswald hinter der Ermordung des 35. Präsidenten steckten. Über die Jahre sank diese Zahl etwas – 1991 lag sie bei 56 Prozent, 2017 gaben 60 Prozent aller Befragten an, hinter der Ermordung eine Verschwörung zu vermuten.[1] Das massive öffentliche Interesse und die hohen Zahlen der Zustimmung für alternative Erklärungsansätze (mit ihrem Höhepunkt in den Siebzigerjahren) sowie die andauernde Prominenz des Falles scheint dabei unmittelbar mit dem Grad der Sichtbarkeit zusammenzuhängen:

Dank einer kurzen, von dem Tatzeugen Abraham Zapruder aufgenommenen Filmsequenz sowie eines staatlich verfügbaren Bestandes von wohl mehreren hundert zeitgenössischen Tatortfotos waren wir […] alle dabei, als Kennedy ermordet wurde. Wir alle haben gesehen, was passiert ist; wir alle können es, wenn auch bestenfalls aus zweiter Hand, bezeugen.

Hövelmann, S. 32-33

Der erwähnte Zapruder-Film, der die Schüsse auf Kennedy filmisch festhielt, wurde erst 1975 im Rahmen der ABC-Sendung Good Night America erstmals öffentlich aufgeführt.[2] Dies führte 1976 zur Bildung des House Select Committee on Assassination, welches den Tod von Kennedy dreizehn Jahre später erneut untersuchte. Fünfzehn weitere Jahre sollten schließlich vergehen, ehe Oliver Stone als „America’s most visible conspiracy theorist“[3] mit JFK für eine neue Welle der Auseinandersetzung mit der Thematik sorgte, die dank des immensen Erfolgs des Filmes an den Kinokassen auch eine breite Öffentlichkeit erfasste. Dieses wiederholte Aufflammen öffentlichen Interesses am Fall Kennedy scheint mir über die übliche Lust an der Sensation und des Grauens hinauszugehen, die uns Menschen gewöhnlicherweise auszeichnet. Sie scheint mir vielmehr, so möchte ich nahelegen, auf die grundlegende Verfasstheit der US-amerikanischen Demokratie Anfang der Neunzigerjahre zu verweisen.

Filme und Wirklichkeit

Filme sind nie bloß Filme. Filme sind vielmehr „Spiegel der bestehenden Gesellschaft“, wie es der Filmsoziologe Siegfried Kracauer in seinem 1977 erschienenen Essay „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ einmal postulierte[4]. Ich möchte darum nahelegen, dass das Verhältnis zwischen der gesellschaftlichen Realität und den Fiktionen, die sie produziert, nicht trivial ist, sondern etwas sichtbar macht und zurückspiegelt, das uns Aufschluss über unser Verhältnis zur Wirklichkeit geben könnte. Filme sind Teil unserer Wirklichkeit, greifen sie diskursiv auf und bringen selber gesellschaftliche Wirklichkeitsvorstellungen hervor. Filme erklären uns, wer wir sind und wer wir sein wollen – wer wir mit Blick auf Jack Torrance, der manisch grinsend durch den Türschlitz blickt, womöglich niemals sein wollen. Vor den Leinwänden sitzen echte Menschen mit echten Problemen, echten Sehnsüchten, echten Träumen. Manche Bilder nehmen sie mit sich; manche tragen sie in sich. Manche mögen zu einer unausgesprochenen, ästhetisch empfundenen Wahrheit werden. Doch wie gelangen sie in uns hinein? Und wohin genau gelangen sie überhaupt?

Im anthropologischen Blick erscheint der Mensch nicht als Herr seiner Bilder, sondern […] als ‚Ort der Bilder‘, die seinen Körper besetzen: er ist selbsterzeugten Bildern ausgeliefert, auch wenn er sie immer wieder zu beherrschen versucht.

Belting, S. 23.

Die Bilderwelten des Kinos, verstanden als Schauplätze politischer Macht und Ohnmacht, als Zielpunkte ökonomischer und ideologischer Interessen und daraus resultierender Versuche der Einflussnahme, sind nicht unschuldig – sie waren es nie. Nach den Bildern der Verschwörung zu suchen, heißt darum auch, diese nach ihren machtpolitischen Potenzialen zu befragen; nach ihren Potenzialen zu täuschen und zu manipulieren; Illusionen zu beschwören, denen wir vielleicht nicht gewachsen sind. Welche Illusionen und welche Wahrheiten liegen in JFK? Wo überschneiden sich diese Begriffe, bringen sich möglicherweise sogar wechselseitig hervor? Was lehrt uns der Film über das Verschwörungsdenken – was über das Kino? Eine Auseinandersetzung mit den Strukturen des Filmes erscheint mir eine reizvolle Übung dafür zu sein, genau diesen Fragestellungen ausführlicher nachzugehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund von Stones außerordentlicher Auskunftsfreude zu seinem filmischen Schaffen und insbesondere zu den politischen Themen, die dieses Schaffen seit jeher charakterisieren:

Who owns reality? Who owns your mind? […] I’ve come to have severe doubts about Columbus, about Washington, about the Civil War being fought over slavery, about World War I, about World War II and the supposed fight against Nazism and Japanese control of resources… I don’t even know if I was born or who my parents were.

Oliver Stone, zitiert nach Pipes, S. 18

Hier verweist Stone, sicherlich ironisch zugespitzt, auf einen fundamentalen Manipulationsverdacht, der nicht nur die Gründungsmythen und Kriege der Vereinigten Staaten, sondern auch die eigene Existenz ontologisch unter Beschuss nimmt. Ich möchte diesen umfassenden Manipulationsverdacht als ontologischen Zweifel bezeichnen. Es ist dieser fundamentale Zweifel an den Grundpfeilern gesellschaftlicher Wirklichkeit, so meine These, der am Grunde des Verschwörungsdenkens liegt – ein Zweifel, so eine weitere These, der sich im populären US-Kino der Neunzigerjahre auf besondere Weise ästhetisch zeigte.

Heterodoxe Verschwörungstheorien

Ehe es zur Auseinandersetzung mit dem Film kommen kann, muss ich ein paar Punkte anmerken: Zu der überwältigenden Anzahl an Theorien, welche sich wiederum auf eine gleichsam überwältigende Anzahl von Daten aus Berichten, Fotografien, Zeugenaussagen, Protokollen und Gutachten stützen, habe ich absolut nichts beizutragen. Ich habe keine einzige Anmerkung zur Ermordung John F. Kennedys selbst. Ich kenne mich weder gut genug mit den Details des Falles aus, um Anmerkungen vornehmen zu können, noch liegt es in meinem Interesse, den Fall an sich zu behandeln. Mein Interesse gilt voll und ganz zweier Einzelszenen aus dem Film, ihrer Inszenierungs- und Wirkungsweise und einzelnen Motiven, die in Bezug auf die ästhetischen Dimensionen des Verschwörungsdenkens aufschlussreich sein könnten. Die Verschwörungstheorien[5], die sich um die Ermordung Kennedys ranken, verstehe ich als heterodoxe Wissensbestände – als alternative Erklärungsmuster für ein Attentat, das offenbar viele Fragen offengelassen hat.

„Bei einer heterodoxen Verschwörungstheorie handelt es sich um ein Überzeugungssystem oder Erklärungsmodell, welches aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretiert, wobei die Existenz dieser Verschwörung von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien oder anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen nicht anerkannt wird.“

Anton, S. 14.

Die Unterteilung in heterodoxes Wissen befreit dabei vom Anspruch, über die Theorie richten zu müssen und beschreibt sie zunächst als das, was sie ist: als eine alternative Erklärung für ein historisches Ereignis, wobei die Mehrheit der US-Bürger der orthodoxen Erklärung nicht einmal folgt, weswegen ihr orthodoxer Status grundlegend in Frage zu stellen ist. Stones Film präsentiert sich jedenfalls als eine solche heterodoxe Verschwörungstheorie.

Szene 1: Zwei Herren sitzen auf einer Parkbank und denken über Eliten nach

„Remember“, sagt X und fixiert Jim Garrison eindringlich, „fundamentally people are suckers for the truth. And the truth is on your side.“ Der Satz markiert den Schlusspunkt einer Schlüsselszene.[6] Sie zeigt das Treffen zwischen Jim Garrison (Kevin Costner), einem Anwalt aus Louisiana, der die JFK-Ermordung vor Gericht neu verhandeln möchte und dem Whistleblower X (Donald Sutherland), der sich beim ersten Treffen mit dem idealistischen Anwalt als Regierungsinsider zu erkennen gibt: er habe für das Pentagon gearbeitet, erklärt dieser – Materialbeschaffung, verdeckte Operationen und Sicherheit seine Zuständigkeitsbereiche. X redet schnell und lässt kaum Pausen; es folgt Information auf Information – „he’s the fastest-talking actor I know“, sollte Stone später über Sutherlands Performance sagen. Fünfzehn Seiten Drehbuch habe dieser innerhalb von neuneinhalb Minuten untergebracht – „very quickly“[7]. Die Informationen von X, jedenfalls, sind von unerhörter Brisanz: die Architekten des militärisch-industriellen Komplexes hätten Kennedy ermorden lassen, weil dieser den Rückzug amerikanischer Truppen aus dem vietnamesischen Kriegsgebiet beschließen wollte. Der Grund klingt so simpel wie einleuchtend: der Krieg ist ihr Geschäft und Kennedy drohte es zu ruinieren. „Wer profitiert?“ muss in diesem Fall also im strengen ökonomischen Sinne verstanden werden. X konkretisiert diese paradigmatische Kernfrage in den Worten: „Why was Kennedy killed? Who benefited? Who has the power to cover it up?“

Die Strippenzieher des militärisch-industriellen Komplexes sitzen in Stones Vorstellung in verrauchten Hinterzimmern auf bequemen Sesseln und beratschlagen bei Whiskey und Zigarre über die Zukunft ihrer Macht. Stone taucht diese Szene, die als Rückblende fungiert und als solche die Ausführungen von X affirmativ stützt, in ein verwaschenes Schwarzweiß. So farblos wie die Bilder sind auch die Gesichter der Verschwörer: alte, weiße Herren in Anzügen sitzen dort, aber niemand von ihnen sticht heraus. Sie bilden, wenngleich mittels Rückblende sichtbar gemacht, eine anonyme Verschwörergemeinschaft, die gleichsam als symbolische Repräsentation der mächtigen Elite dient. „Like Caesar, he’s surrounded by enemies“, erklärt X, ehe wir dieses gesichtslose, anonyme Kollektiv zu sehen bekommen. Die Tyrannenmörder[8], die sich einst als Retter der Republik verstanden, sind zu ruchlosen Geschäftsleuten und gewissenlosen Kriegstreibern geworden.

Folgerichtig entlarvt ein Blick in die Hinterzimmer der Macht anschließend, dass sogar der Nachfolger Kennedys, Präsident Lyndon B. Johnson, mit den Verschwörern unter einer Decke steckt. Während er ihnen ihre Kriegspläne unterschreibt, raunt dieser: „Just get me elected – I’ll give you your damn war.“ Der Krieg, erklärt der Whistleblower X einem stummen, sichtlich übermannten Garrison, sei das primäre Organisationsprinzip einer Gesellschaft – „war powers“ das Mittel des Staates, Kontrolle auszuüben. Die Rückblende dient Stone in der gesamten Szene als großes Authentifizierungs-Device. Permanent werden die Ausführungen von X auf der visuellen Ebene durch authentische historische Filmaufnahmen ergänzt. Sie ermöglichen eine Rückblende, einen Blick in die Vergangenheit also, ohne die gegenwärtige Ebene der Konversation mit Garrison verlassen zu müssen. Die Geschichte, und damit gleichsam die historisch perspektivierte Verschwörung, wird so auf filmische Weise vergegenwärtigt.

Wenn Texte, die sich mit Verschwörungen befassen, auch immer „manifestations of underlying collective perceptions of the nature of contemporary citizenship“[9] darstellen, dann lässt sich zunächst feststellen, dass der gemeine Bürger in JFK in Personifikation von Jim Garrison auftritt. Er kommt als Außenseiter in die amerikanische Hauptstadt, um den ungeklärten Begleitumständen des Kennedy-Attentats auf die Schliche zu kommen. Und als solch ein Außenstehender bringt er das Versprechen mit, eben nicht Teil jener Elite zu sein, die in den verrauchten Hinterzimmern von Washington D.C. die Macht unter sich aufteilt.

Frank Capra und die Eliten

Die Kulisse, vor der sich Garrison mit X trifft, ist symbolträchtig und in Bezug auf die Figurenkonzeption Garrisons aufschlussreich: Stone beginnt die Szene zu den Füßen des Lincoln Memorial und verlagert sie anschließend auf eine Parkbank vor dem Washington Monument. Die Situierung der Szene zwischen den Symbolen der amerikanischen Demokratie verweist gleich in zweifacher Hinsicht auf Geschichte: zum einen auf die amerikanische Demokratiegeschichte und zwei ihrer herausragenden Vertreter (Abraham Lincoln und Gründervater George Washington), zum anderen auf die Filmgeschichte. Vor allem zu den Filmen Frank Capras, und im Speziellen dessen Film Mr. Smith Goes to Washington, lassen sich sowohl auf der formalen als auch der inhaltlich-motivischen Ebene bedeutende Parallelen feststellen.

Mr. Smith Goes to Washington (US 1939) erzählt die Geschichte des Pfadfinderführers Jefferson Smith (James Stewart), der nach Washington kommt, um dort den Senatsposten seines verstorbenen Vorgängers anzutreten. In Washington stößt er auf die Taylor Machine, eine Gruppe von Eliten, die sich um den mächtigen Medienmagnaten Jim Taylor (Edward Arnold) geschart hat. Diese erinnern in ihrer Darstellung an die Hinterzimmer-Elite aus JFK: „Capra peoples the Taylor Political Machine with rotund, cigarsmoking ‚types‘ easily recognizable as villainous.“[10] Das prop der Zigarre scheint eine beliebte Trope in der Darstellung von Gegenspielern und Bösewichten zu sein. Zigarettenrauch zeigt mentale Betriebsamkeit und Nachdenklichkeit an. Der Kopf wird auch symbolisch zum Rauchen gebracht. Die Gegenspieler sind also beständig aktiv; brüten in ihren bösen Köpfen neue Intrigen aus. Der symbolische Gehalt des Rauchens wird in den Stereotypen der bösen Elite dramaturgisch wirksam gemacht. Es erzeugt ein gesteigertes Gefühl der Dringlichkeit und erhöht zugleich den Handlungsdruck auf diejenigen, die die Verschwörung aufdecken wollen.

In each of these four films [Mr. Deeds Goes to Town, Mr. Smith Goes to Washington, Meet John Doe, It’s a Wonderful Life] a simple, unassuming young man from small-town America is thrust by circumstances into a situation in which he is confronted with the power and corruption of urban industrialists, corporate lawyers, bankers, and crooked politicians. Eventually, through the determined application of the virtues of honesty, goodness, and idealism the „common man“ triumphs over this conspiracy of evil. On the surface, then, these films rest comfortably within the ideals of Populist mythology.

Phelps, S. 379

Die populistische Mythologie der Capra-Filme, mit ihrem Rückbezug auf die Idealisierung des Landlebens, so wie sie beispielsweise in der politischen Philosophie der Jeffersonian democracy wirkmächtig geworden ist, dem dazugehörigen elitenkritischen Impetus sowie ihren sprachlichen Vorstellungswelten, führt Stone in die Gegenwart der Neunzigerjahre. Eliten sind dieser Grammatik nach urban, akademisch, korrumpiert und opportunistisch; der einfache, junge Mann aus der Kleinstadt dagegen prinzipientreu, demokratisch, herzensgebildet und idealistisch. Eliten sind auch stets eine diffuse Übermacht, ein vages Konglomerat jener, die sich in den Schlupflöchern des Systems eingenistet haben und es von innen heraus korrumpieren. Industrielle, Anwälte, Bänker und Politiker bilden in der Folge ein undurchschaubares Netzwerk der Macht, um diesen Status quo beizubehalten. Familiäre Bande (Nepotismus), vor allem aber finanzieller Opportunismus (Plutokratie) bilden die Grundlage dieser unheiligen Allianz.

Capra und Stone teilen die fundamentale Überzeugung, dass Macht kumulativ ist; dass sie sich also in den Händen weniger akkumulieren und verfestigen lässt. Vor diesem Hintergrund dienen die systemischen Rahmenbedingungen der Demokratie nicht dazu, dass die Macht immer wieder neu verteilt wird, sondern begünstigen durch die Verschwörung der Eliten mit der Wirtschaft und dem Presseapparat sogar gegenteilig die Konzentration von Macht in den Händen weniger. Wahlen erfüllen hierbei höchstens noch einen symbolischen Zweck. Das Grundgefühl, dass solche Überzeugungen nahelegen, ist eines der Machtlosigkeit. Wenn Wahlen nichts verändern können, ließe sich nun fragen, worin besteht dann noch eine realistische Möglichkeit zur politischen Mitbestimmung?

Diese Mentalität setzte sich von den Capra-Filmen ausgehend in Stones JFK fort und fand schließlich in den Neunzigerjahren als Conspiracy Decade auch begrifflich Ausdruck: „More Americans than ever before in the history of public opinion polling felt powerless. They did not trust – and even feared – their government“[11]. In Befragungen, die in den Neunzigerjahren durchgeführt worden sind, gaben über die Hälfte der US-Amerikaner an, dass sie keinen Einfluss auf das Handeln ihrer Regierung hätten. Im Vergleich zu den vorigen Jahrzehnten, erreichte der Glaube an die eigene Machtlosigkeit in dieser Phase sein Allzeithoch. Solche kollektiven Grundstimmungen bergen ein großes Potenzial für konspirationistisches Denken, welches laut dem Politologen Ray Pratt durch Filme wie JFK sogar mitverursacht wurde. Oliver Stone sind die politischen Parallelen zu Capra ebenfalls nicht entgangen. In verschiedenen Interviews äußerte er sich ausführlicher dazu:

Capra was very aware of fascism, which he considered a political menace to the country and to democracy. I begin my film with Eisenhower’s speech, which was really a shock. […] He kept the country from drifting into fascism, which happens in the film.

Oliver Stone, zitiert nach Ciment, S. 106

In der Rede Eisenhowers, auf die Stone hier rekurriert, heißt es unter anderem: „In the councils of government we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military industrial complex.“ In der Dialogszene mit X wird dieses vorangestellte Zitat als prophetisches Omen deutbar, da es die Auflösung der Verschwörung bereits ganz zu Anfang vorbereitet und gewissermaßen vorwegnimmt. Stone authentifiziert zugleich seine spekulative Auflösung des Attentats, indem er seine Indizien über intertextuelle Verweise auf historisches Bildmaterial permanent zu falsifizieren versucht. Dabei ist das Stichwort von Eisenhower, die Nennung des militärisch-industriellen Komplexes, natürlich noch lange kein Beweis dafür, dass dieses vage Konglomerat von Eliten auch hinter der Ermordung von Kennedy steckte. Es fühlt sich aber plausibel an, weil es nicht nur filmhistorisch an das herrschafts- und elitenkritische Sentiment von Capra anschließt, sondern durch die intertextuelle Verweisstruktur der Szene zusätzlich historisch grundiert wird.

Symbole der Freiheit

The basic reason comes down to one question: does the government belong to the people or is it fascist? That’s what the film’s about: It’s ‚the State against the individual‘

Oliver Stone, zitiert nach Ciment, S. 106

So fasst Stone das Thema seines Filmes selbst zusammen. Die Figur von Jim Garrison fungiert demnach analog zur Figur des Jefferson Smith. Sie sind zum einen common men[12], „Menschen wie du und ich“, zum anderen Figuren, die im Laufe der Filme über sich hinauswachsen und zu Helden heranreifen, indem sie sich entschlossen gegen das System stellen und damit gleichsam gegen das elitäre Kollektiv, das es kontrolliert und ausnutzt. Die hehren Ideale beider Figuren werden nicht nur dadurch ausgedrückt, wie sie handeln, sondern finden darüber hinaus Ausdruck in Elementen der Mise en Scène. Während das Lincoln Memorial und das Washington Monument in JFK als Hintergrundelemente auftauchen, werden die amerikanischen Wahrzeichen in Mr. Smith Goes to Washington in einer disparat wirkenden Montage[13] prominent in Szene gesetzt und geradezu frenetisch gefeiert: da gibt es dann schamlose Überblendungen zur wehenden Amerika-Flagge und zu läutenden Glocken, denen der Schriftzug „liberty“ eingraviert ist, dazu läuft die amerikanische Nationalhymne, und im Gegenschnitt zu alledem sehen wir das Gesicht von James Stewart, dessen ehrfurchtsvoller Blick auf das Lincoln Memorial auch zugleich über dieses hinauszuweisen scheint. Dieser metaphysische Blick auf die Gründungsgeschichte, auf Jefferson und Washington, das in Szene setzen dieser ikonischen Symbole des amerikanischen Gründungsmythos, dient der Charakterisierung der Figuren. Indem sie sich in den Schatten dieser Symbole stellen, färbt die Tradition und die Geschichte gleichsam auf sie ab. Sie wirken darum trotz der Größe der Monumente nicht klein, sondern demütig. Capra und Stone, Stewart und Costner – sie belagern nicht nur den gleichen Ort, laden ihn mit Bedeutung auf und nutzen ihn für ihre Zwecke aus, sie teilen sich auch einen filmhistorischen Raum.

Oliver Stone erzählt den Film aus einer allwissenden Perspektive, indem er jede informative Leerstelle im Bezug auf das JFK-Attentat mit eigenen Spekulationen aufzufüllen sucht – dadurch wird JFK in weiten Teilen zu einer nullfokalisierten Erzählung[14]. Für viele Figuren im Film wird die Heldenhaftigkeit von Garrison nicht nur nicht gesehen, sondern dessen geistiger Zustand generell angezweifelt. Im Streit erklärt Garrison auf den Vorwurf seiner Ehefrau (Sissy Spacek) , dass er sich verändert habe: „Of course I have changed. My eyes have opened. And once they are opened, believe me, things that used to look normal suddenly look insane.“ Anschließend spitzt er es auf die verzweifelte, durchaus paradigmatisch zu verstehende Frage zu: „Don’t you see?“ „Siehst du denn nicht?“ Das Wissen um die Verschwörung und das mühselige Aufdecken ihrer Strippenzieher macht Garrison für die wenigsten Figuren zu einem Helden, sondern diesen vor allem allein. Das ist der Preis dafür, wissend zu sein und nicht länger zu den „Schlafschafen“ zu zählen, womit all diejenigen gemeint sind, die außerhalb der eigenen Wissens-Heterodoxie liegen. X ist darum eine der wenigen Figuren, die Garrison positiv zuspricht und ihr so etwas wie Bewunderung entgegenbringt – auf der Parkbank, am Ende ihres Gespräches, versichert er ihm: „the truth is on your side“. Wissen und Heroismus werden hier relational verknüpft. X weiß um den Heroismus Garrisons, der für die Uneingeweihten verborgen bleibt.

Die Performance von Kevin Costner in der Rolle des Garrison bringt genau diesen tragischen Heldentypus zum Vorschein: er spielt den gewöhnlichen, prinzipientreuen Bürger, der zur Verteidigung der Demokratie über sich hinauswächst. Stone sagte über Costners Performance: „he underplays the role […] He’s underrated because he speaks in something of a monotone, but that’s his style. Gary Cooper did the same thing […] It’s a minimalist interpretation that works“[15]. Gerade die monotone Stimme indiziert einen unerschütterlichen Stoizismus, eine Konzentrationsfähigkeit und einen drive, der ihn weiter auf die „Wahrheit“ zugehen lässt, auch wenn sie ihn erschreckt. Die Heldenhaftigkeit von Garrison will Stone aber nicht konstruiert haben und erklärt: „Of course I oversimplified, I made him a hero, but I sense his heroism. I don’t think I invented it.“[16] Diese Haltung zur historischen Person Garrisons und zum historischen Fall zeigt sich im gesamten Film.

Stone füllt jene Leerstellen, die die Geschichte hinterlässt, will sie aber über die ästhetische Engführung mit der Fiktion (gedrehte Szenen gehen bruchlos in historische Aufnahmen über) gewissermaßen mit dieser zum verschmelzen bringen. Gerade die Rückblenden werden in diesem Sinne selbst zu Geschichte, indem sie gleichberechtigt neben historischen Filmaufnahmen positioniert werden. So wie Stone den Heroismus von Garrison „spürte“, „fühlen“ wir in JFK die Wahrhaftigkeit der geschilderten Geschehnisse, so bruchlos geht die Geschichte (im Sinne von Historie) in die Geschichte (im Sinne von Erzählung) über.

Szene 2: Vierundzwanzig Mal die Wahrheit pro Sekunde

In einer Binnensequenz[17] innerhalb der großen Gerichtsprozesssequenz am Ende des Filmes werden diese stilistischen Mittel ganz konkret auf das JFK-Attentat angewandt. Die Sequenz beginnt mit Garrison, der sich an das Publikum im Gerichtssaal richtet und fragt: „So what really happened that day?“ und darauf: „Let’s just for a moment speculate, shall we?“. Anschließend beginnt eine komplexe Rückblenden-Montage, die die Ausführungen Garrisons zum Ablauf des Attentats filmisch lebendig werden lässt. Garrisons Erklärungen im Gerichtssaal fungieren innerhalb der Rückblenden-Montage als narratives Voice Over.

Der Großteil der Rückblende wird über fiktive Schwarzweiß-Aufnahmen erzählt. Wir sehen, wie sich die Schützen positionieren und das Attentat vorbereitet wird. Die Montage ist im Stakkato geschnitten, Einstellungen dauern zwischen 1 bis 2 Sekunden an. Es dominieren stilistische Mittel wie Schwenks, Zooms, Fahrten oder eine Kombination dieser Mittel, wodurch die Montage weiter dynamisiert wird. Zugleich legt sich der Score von John Williams als unheilvoller, antizipativer Klangteppich unter die gesamte Sequenz. Die Sequenz konstituiert sich dabei aus den Blickwinkeln der Passanten und Zuschauer, der Schützen, der Beschossenen (womöglich Kennedy –das ist nicht ganz auszumachen) und verschiedener Verschwörer am Boden. Diese Multiperspektivität muss ein Formspiel bleiben. Auf der Ebene der narrativen Konstruktion, auf der Drehbuchebene, handelt es sich natürlich (und gezwungenermaßen) um eine auf spezifischen Annahmen und Schlussfolgerungen aufbauende Variante des historischen Geschehens, die maßgeblich von der Perspektive Stones und seines Co-Autoren Zachary Sklar abhängig ist. Stone sagte zur Perspektivität der Szene:

I had my structure in my head […] which is that we would first see the assassination from a conventional point of view and then, throughout the movie, we would see it again and again and again, like peeling an onion skin, until we get to that final moment, when the motorcade makes that turn, and this time you would really see it for the first time, you would get it.

Oliver Stone, zitiert nach Crowdus, S. 103

Wie schon im gesamten Film werden auch in dieser Sequenz wieder historische Filmaufnahmen integriert. Diese sind jedoch nicht in Schwarzweiß, sondern in Farbe. Dabei handelt sich um den tonlosen 8-mm-Farbilm, den der Amateurfilmer Abraham Zapruder am Tage des Anschlags mit einer 414 PD Bell & Howell Zoomatic, Director Series-Kamera von einem Betonsockel auf der Elm Street aufgenommen hat. Der verwendete Kodachrome-Farbfilm bestand aus doppeltem 8-mm-Film, der über eine Bandspule geladen wurde. Die Kamera war während der Aufnahme von Zapruder auf den größtmöglichen Zoom eingestellt, um eine möglichst detaillierte Einstellung vom dunkelblauen 1961er Lincoln Continental und den darin befindlichen Personen zu bekommen: John F. Kennedy und seine Frau Jaqueline Bouvier Kennedy sitzen auf der hinteren Sitzreihe, der texanische Gouverneur, John Connally, und seine Frau Nelli auf der mittleren Sitzreihe und auf der vorderen Sitzreihe zwei Sicherheitsbeamte des Secret Service als Fahrer und Beifahrer.[18]

In der Sequenz sticht auch die akustische Gestaltung hinaus. Sie folgt dem Ziel, die Leerstellen des historischen (tonlosen) Filmmaterials aufzufüllen. An einer Stelle folgt auf das Klicken einer Kamera, die eine Passantin verwendet, beispielsweise das Klicken eines geladenen Gewehrs. Zugleich beginnt sich die Musik allmählich aufzubäumen und antizipiert das kommende Ereignis. Das Kinopublikum befindet sich dabei in einer interessanten, weil ambivalenten Position wieder: einerseits weiß es, was passieren wird (Kennedy wird erschossen), andererseits ist die konkrete filmische und narrative Ausgestaltung des Vorgangs selbst und vor allem die Umstände, die es begleiten (wer hat es warum und wie getan), noch völlig im Unklaren. Das ist ohnehin das Versprechen, mit dem ein solcher Film antritt: neue Erkenntnisse und Antworten zu liefern auf Fragen, die vielleicht auf ewig unbeantwortet bleiben müssen. Es wirklich neu zu sehen, wie es Stone im obigen Zitat beschreibt, wird durch die Interpretation des historischen Materials erreicht. JFK offeriert eine alternativ-spekulative Geschichtsstunde, die die Leerstellen, die Geschichte immer hinterlässt, hinterlassen muss, mit fiktiven Mitteln anzureichern versucht. Das Nichtwissen wird, aus soziologischer Sicht, also durch Phantasiewissen ersetzt und damit das Ungewisse und damit zusammenhängende Ängste beherrschbar gemacht. Machtlosigkeit und Kontrollverlust werden durch die Phantasie kompensiert.[19] In dieser Hinsicht erweist sich JFK als die Fortsetzung des Verschwörungsdenkens mit filmischen Mitteln.

Im Laufe der Sequenz werden fiktive Einstellungen in Farbe hinzugefügt, die die Anmutung des Zapruder-Materials nachzuahmen versuchen. Zum fiktiven Schwarzweißmaterial, dem historischen Farbfilmmaterial von Zapruder, kommt nun also fiktives Farbfilmmaterial hinzu. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Materialarten, bzw. ihrer jeweiligen Provenienz, kann vom Zuschauer dabei kaum noch zuverlässig getroffen werden, so schnell wechseln sich die Clips ab und so geschickt sind sie ineinander verschnitten. Überhaupt stellt sich angesichts der rasanten Montage und der Vielzahl von Archivmaterial und verschiedener Bildformate eine gewisse Überforderung ein, die den Film in seinem aufklärerischen Gestus (der sich auch in unzähligen Interviews mit Stone zeigt) im Grunde zuwiderläuft.

Der Rechtswissenschaftler Mark Fenster bemerkt in seinem Buch Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture darum: „JFK presents so much historical information and speculation, and moves so quickly and so far across an expanse of American political history, that it threatens to overpower the narrative and the argument that it makes about the conspiracy to assassinate Kennedy.“[20] Möglicherweise ist aber genau das der gewünschte, fundamental anti-aufklärerische Effekt dieser Machtart: der Zuschauer soll gar nicht selber ins denken kommen, zwischen den dargebotenen Perspektiven abwägen, um zu eigenen Schlüssen zu gelangen oder sogar eigene Zweifel bestehen zu lassen. Er soll nicht aufgeklärt, sondern überwältigt werden. Er soll nicht verstehen, sondern kapitulieren; kurzum: soll die Wahrheit fühlen, statt sie zu zerdenken.

Der Score von Williams geht derweil in rhythmische Trommelklänge über. Diese bewegen sich auf einen antizipierten Kulminationspunkt zu. Die Gewehre der Verschwörer sind angelegt und geladen. Nun sehen wir die Nahaufnahme eines Filmprojektors, der im Gerichtssaal gestartet wird. Er beginnt Ausschnitte aus dem 26,6 Sekunden langen, aus 486 Einzelbildern bestehenden Zapruder-Film zu zeigen. Das Moment des Attentats[21] inszeniert Stone anschließend als ein Kreuzfeuer aus Gewehr- und Kameraschüssen und schneidet den filmenden Abraham Zapruder den lauernden Attentätern entgegen. Diese Einstellungen lassen sich oppositionell verstehen: während die Gewehre in den Bildern des Attentats eine zerstörerische Kraft entfalten und sie vor allem sicht- und erlebbar machen, fungiert die Kamera als Wahrheits- und Erkenntnisinstrument. Sie hält das Ereignis fest – vermeintlich ungeschönt und „wahrhaftig“. Als Artefakte der Wahrheit sollen sie dabei helfen, den Umständen von Kennedys Tod auf die Schliche zu kommen. Kennedy ist dabei gleichermaßen im Visier der Objektive, wie der Gewehrläufe.

Einige Augenblicke nach dem Attentat schneidet Stone zurück auf den vortragenden Garrison und holt damit den Gerichtssaal als räumliche Dimension zurück in die Sequenz. Es folgt ein Gegenschnitt von einer Kameralinse zu einem Zielfernrohr, erneut werden die Zielsucher parallelisiert und oppositionell verortet. Garrison arbeitet nun auf der diegetischen Ebene mit dem Filmmaterial von Zapruder, indem er den fatalen Kopfschuss auf Kennedy anhält und zurückspult, wodurch wir mehrere Male zu sehen bekommen, wie von dessen Kopf ein „hellroter Schleier aus Gehirngewebe, Blut und Hirnflüssigkeit“[22] wegspritzt. Dies dient Garrison als Beweis dafür, dass der tödliche Schuss von vorne kam und nicht, wie von der Warren-Kommission[23] behauptet, von Oswald, welcher zu diesem Zeitpunkt mutmaßlich hinter dem Fahrzeug positioniert war. Die diegetische Filmanalyse dient dabei der Rekonstruktion des Attentats und gleichsam der Konstruktion einer Verschwörungstheorie[24]. Stone und Garrison werden dabei jedoch beide Opfer ein und derselben Täuschung.

Film als Kronzeuge

„Signifikat und Signifikant des filmischen Zeichensystems, Objekt und photographisches Abbild des Objektes, sind sich zum Verwechseln ähnlich, in ihrer Erscheinung nahezu deckungsgleich.“

Hurst, S. 247-248

Der Realitätscharakter des filmischen Mediums auf einer semiotischen Ebene (seine Pseudo-Indexikalität[25]) sowie seine narrativen Mechanismen sind maßgeblich für seine suggestive Strahlkraft. Das photographische Bild beherbergt offenbar eine Art ästhetisch empfundener Wahrheit, die das Sprachliche übersteigt. Die Bilder sprechen, aber sie sprechen nicht in Worten und Sätzen. Oder: Die Bilder des Zapruder-Films sprechen, wie Garrison es formuliert, in tausend Worten: „Picture speaks a 1000 words, doesn’t it?“, fragt er rhetorisch an das Publikum im Gerichtssaal gerichtet. Die Vorstellung, dass der Zapruder-Film als filmischer „Kronzeuge“ lediglich die objektive Wahrheit abbildet, also ungeschönt das zeigt, was tatsächlich und wahrhaftig geschehen ist, ist jedoch irregeführt und sitzt einem grundlegenden Missverständnis bezüglich filmischer Bilderwelten und ihres Realitätscharakters auf. Das Zeichensystem des Kinos und die vermeintliche Realität, das dieses abzubilden vermag, entspricht eher der Argumentationsstruktur des Verschwörungsnarrativs, welches das Ziel verfolgt, eine kohärente Interpretation von der Wirklichkeit wiederzugeben. Beides enthält jedoch nur Bruchstücke einer photographischen Wahrheit, die für ein fiktives Ganzes fiktionalisiert wird.[26]

1967 ließ das Life-Magazin, welches eine von drei Kopien des Zapruder-Filmes gekauft hatte und über alle Foto- und Filmveröffentlichungsrechte verfügte, diese über ein experimentelles Verfahren auf 35-mm vergrößern. Der beauftragte Fototechniker Robert J. Groden erstellte dabei eine unautorisierte Kopie des Originals. „Diese versuchte er zu stabilisieren, indem er den Film auf einen glatten Bewegungsablauf des Präsidenten ausrichtete und die einzelnen Bilder entsprechend in ihrer Längen- und Höhenjustierung anpasste.“[27] Auch Stone griff, neben dem 8-mm-Original, auf diese vermeintlich präzisierte 35-mm-Variante des Zapruder-Filmes zurück.[28]

Tatsächlich bilden Fotos und Filme vom Attentat auf Kennedy immer nur einen Ausschnitt der Geschehnisse ab, aus denen sich die Ereignisse außerhalb ihrer Blickwinkel zwar rekonstruieren und deuten, nicht aber eindeutig klären lassen. So führte die Interpretation der visuellen Dokumente des Anschlags zu einer Vielzahl von Attentats- und Verschwörungstheorien, nicht etwa zu einer einheitlichen objektiven Erkenntnislage.

Machat, S. 284

Das Medium Film, und damit ist Zapruders historisches Zeitdokument ebenso gemeint wie jedes andere filmische und photographische Artefakt, verlangt nach Deutung. Die hermeneutische Auseinandersetzung macht die Dinge allerdings nicht klarer, sondern verkompliziert sie. Das hat vor allem mit der Mehrdeutigkeit des Medialen und insbesondere des Filmischen zu tun. Sechs Untersuchungen der Regierung, sowie eine Vielzahl von privaten und universitären Studien zum Anschlag, kamen bis heute zu keinem einverständlichen Ergebnis über die Geschehnisse, die zur Ermordung Kennedys geführt haben. Die Warren-Kommission rekonstruierte die Flugkurve der Gewehrkugeln anhand des Zapruder-Filmes und schlussfolgerte, dass Kennedy und Connally von der selben Kugel getroffen worden sein mussten. „Die Simulation des Attentats auf Kennedy wird somit mit dem Attentat selbst verbunden und eine Nachstellung von Zapruders Bildern dient zur Wahrheitsfindung und Deutung des eigentlichen Filmmaterials.“[29]

Oliver Stone greift in JFK auf das gleiche Bildmaterial zurück und kommt doch zu gänzlich anderen Schlüssen. Erst der Blick, der auf die Bilder fällt, erzeugt also Bedeutung. „Als Gegenstand existiert der Film selbstverständlich in seiner Dose“, schrieb die Filmwissenschaftlerin Kristin Thompson einmal im Rahmen eines Aufsatzes über die Filmtheorie des Neoformalismus. Der Film, so eine Überlegung des Neoformalismus, existiert also materiell, aber erst „aus der Interaktion zwischen den formalen Strukturen des Werks und den mentalen Verarbeitungsprozessen des Zuschauers“[30] entstehen Bedeutungen. Das heißt aber auch, dass es keine Ebene gibt, auf der ein Film objektiv wirken kann, eben weil er wirkt. Diese Wirkung setzt die Anwesenheit eines Rezipienten voraus, bei dem etwas bewirkt werden kann.

„Der Film schien alle Theorien bestätigen und stützen zu können. Er zeigt zwar den Ablauf des Attentats […], konnte aber nichts zur Aufklärung der Hintergründe beitragen.“[31] Das gleiche Bildmaterial bringt im Blick seiner Betrachter und ihrer Fantasien ein schier unermessliches Spektrum widerstreitender Theorien und Ansichten hervor. Ironischerweise hat der „ungewöhnliche Grad der Sichtbarmachung und Sichtbarwerdung“[32] im Falle JFK die Unüberschaubarkeit also nicht etwa aufgelöst, sondern sie eher noch verstärkt. Im Versuch, alte Illusionen zu entlarven, so ließe sich summieren, bringt JFK am Ende des Tages doch nur neue hervor; kreiert neue populistische Mythen, um alte einzureißen.

Die Fotos und Filme vom Tode Kennedys sind ins Gedächtnis eingebrannte Bilder, sind zugleich aber auch unscharfe Bilder […]. So wie Heisenbergs Unschärferelation von 1927 daran erinnert, dass man nicht alles bis ins Kleinste messen kann, dass immer ein Moment der Unschärfe im Spiel ist und der Blick und das Betrachten schon alleine ein Moment der Veränderung und Interpretation enthalten.

Machat, S. 287

Header und JFK-Galerien: © Warner Bros. | Mr. Smith Goes to Washington: © Columbia Pictures | Life-Cover: © Time Inc.

Einzelnachweise:
[1] Vgl. Chinni, Dante (2017): The One Thing All Americans Agree On: JFK Conspiracy. NBC News, 29. Oktober, 2017. >https://www.nbcnews.com/storyline/jfk-assassination-files/one-thing-all-americans-agree-jfk-conspiracy-n815371< und Pipes, S. 15
[2] Machat, Sibylle (2008): Der Jahrhundertmord – Attentat vor laufender Kamera. In: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, hrsg. Gerhard Paul. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 286. Den Ausschnitt aus der Sendung gibt es auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=sNrgzkjCNCE
[3] Kilday, Gregg (2001): Oliver Stoned. In: Oliver Stone: interviews, hrsg. Charles L. Silet. Jackson: University Press of Mississippi.S. 114
[4] Kracauer, Siegfried (1977): Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino. In: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 279-294.
[5] Ironischerweise wurde sogar der Begriff ‚Verschwörungstheorie‘ zum Zielpunkt verschiedener Verschwörungstheorien. Diese postulieren entweder, das CIA habe den Begriff erfunden, um Verfechter alternativer Erklärungsansätze zum JFK-Attentat zu diskreditieren oder zumindest die negative Konnotation des Begriffes systematisch erzeugt, um das gleiche Ziel zu erreichen. Als Beweis dient das offizielle CIA Dokument Concerning Criticism of the Warren Report, in dem jedoch nie davon die Rede ist, den Begriff zur Stigmatisation zu verwenden. Auch die Behauptung, der Begriff sei in diesem Dokument erstmals definiert worden, ist falsch. Vgl. Butter, Michael (2020): There’s a conspiracy theory that the CIA invented the term ‘conspiracy theory’ – here’s why. The Conversation, 16. März, 2020. >https://theconversation.com/theres-a-conspiracy-theory-that-the-cia-invented-the-term-conspiracy-theory-heres-why-132117<
[6] Die Szene beginnt bei 1:50:15 Std. und endet bei 2:06:55 Std.
[7] Ciment, Michel, Hubert Niogret (2001): A Destabilized America. In: Oliver Stone: interviews, hrsg. Charles L. Silet. Jackson: University Press of Mississippi. S. 111
[8] Dies bezieht sich auf die Verschwörung einer Gruppe römischer Senatoren, die am 15. März 44 v. Chr. in der Ermordung des amtierenden Diktators Julius Caesar gipfelte.
[9] Pratt, Ray (2001): Projecting Paranoia. Conspirational Visions in American Film. Lawrence: University Press of Kansas. S. 229
[10] Nelson, Joyce (2013): Mr. Smith Goes To Washington: Capra, Populism and Comic-Strip Art. In: Journal of Popular Film. Kingston: Queen’s University. S. 247
[11] Pratt, S. 22
[12] Oder auch „little men“ – kleine Leute. Capra bezeichnete das Triumvirat aus Mr. Deeds Goes to Town (1936), Mr. Smith Goes to Washington (1939) und Meet John Doe (1941) als seine little men-Trilogie.
[13] Die Sequenz wurde im Gegensatz zum Rest des Filmes vom Kameramann Slavko Vorkapich inszeniert. Siehe: Nelson, S. 249
[14] Gemeint sind „Erzähler, die alles wissen, von nichts und niemandem zurückgehalten werden und die dennoch deutlich machen, dass sie ihren ungebrochenen Blick einer bestimmten Partei selbstlos zur Verfügung stellen – nämlich denen, die Opfer [vermeintlicher Verschwörungen werden]“. Vgl. Dümling, Sebastian (2020): Der Tell, das Dieselverbot und das Blackwashing Europas. Überlegungen zu einer Grammatik der Verschwörungsbeobachtung. In: Verschwörungserzählungen (Tagungsband der DGV-Kommission für Erzählforschung, 10). Würzburg. S. 100
[15] Ciment, S. 113
[16] Ciment, S. 112
[17] Die Szene beginnt bei 2:54:29 Std. und endet bei 2:58:24 Std.
[18] Machat, S. 282-284
[19] Pommrenke, Sascha (2014): Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 308, S. 310
[20] Fenster, Mark (1999): Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press. S. 125
[21] Diejenigen, die die Ermordung Kennedys ganz hautnah nacherleben möchten, können sich übrigens eine Rundfahrt in einer offenen Lincoln Continental Limousine buchen; von Love Field nach Dealey Plaza, jener Route, die Kennedy bei seiner Ermordung abgefahren ist, und an der Stelle, an der die tödlichen Schüsse fallen, werden über einen Lautsprecher Schussgeräusche eingespielt, ehe man im Eiltempo weiter zum Parkland Memorial Hospital chauffiert wird. Vgl. Pipes, S. 16
[22] Machat, S. 282
[23] Die Warren-Kommission (offiziell: The President’s Commission on the Assassination of President Kennedy), ist nach dem Vorsitzenden Earl Warren benannt, welcher zu diesem Zeitpunkt auch Vorsitzender Richter des Obersten Gerichtshofs der USA war. Die aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission war von Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson einberufen worden, um die Umstände des Todes von Präsident Kennedy aufzuklären. Im September 1964 kam sie zu dem Ergebnis, dass Lee Harvey Oswald als Einzeltäter gehandelt hatte. Vgl. Machat, S. 285
[24] Vgl. Hurst, Matthias (2014): Verschwörungen und Verschwörungstheorien im Film. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 249
[25] Dies bezeichnet die vermeintliche Übereinstimmung von Abbild und Abgebildetem. Beispiel: Der Hund im Film und der gleiche Hund auf der Straße scheinen identisch zu sein, sind es aber natürlich nicht. Sie sind gleich, aber nicht dasselbe. Siehe auch: Koch, Jonas (2015): Erklären und Verstehen fiktionaler Filme. Semantische und ontologische Aspekte. Münster: mentis Verlag. S. 67
[26] Hurst, S. 248
[27] Machat, S. 285-286
[28] Machat, S. 284-286
[29] Machat, S. 285
[30] Thompson, Kristin (1995): Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden. In: montageAV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Ausgabe 4/1. Marburg: Schüren Verlag.S. 44
[31] Machat, S. 286
[32] Hövelmann, S. 33

Quellen:
Chinni, Dante (2017): The One Thing All Americans Agree On: JFK Conspiracy. NBC News, 29. Oktober, 2017. >https://www.nbcnews.com/storyline/jfk-assassination-files/one-thing-all-americans-agree-jfk-conspiracy-n815371<
Ciment, Michel, Hubert Niogret (2001): A Destabilized America. In: Oliver Stone: interviews, hrsg. Charles L. Silet. Jackson: University Press of Mississippi.
Crowdus, Gary (2001): Clarifying the Conspiracy: An Interview with Oliver Stone. In: Oliver Stone: interviews, hrsg. Charles L. Silet. Jackson: University Press of Mississippi. S. 103.
Dümling, Sebastian (2020): Der Tell, das Dieselverbot und das Blackwashing Europas. Überlegungen zu einer Grammatik der Verschwörungsbeobachtung. In: Verschwörungserzählungen (Tagungsband der DGV-Kommission für Erzählforschung, 10). Würzburg.
Fenster, Mark (1999): Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Grüter, Thomas (2010): Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer. Wie Verschwörungstheorien funktionieren. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag.
Hepp, Andreas (1999): Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Hurst, Matthias (2014): Verschwörungen und Verschwörungstheorien im Film. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Hövelmann, Gerd H. (2014): Ach, wie gut, dass niemand weiß…! Ortho- und heterodoxe Perspektiven auf die Ermordung John F. Kennedys. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Kilday, Gregg (2001): Oliver Stoned. In: Oliver Stone: interviews, hrsg. Charles L. Silet. Jackson: University Press of Mississippi.
Kracauer, Siegfried (1977): Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino. In: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Machat, Sibylle (2008): Der Jahrhundertmord – Attentat vor laufender Kamera. In: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, hrsg. Gerhard Paul. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Nelson, Joyce (1974): Mr. Smith Goes To Washington: Capra, Populism and Comic-Strip Art. In: Journal of Popular Film, Band 3, Ausgabe 3. London: Routledge. S. 245-255
Phelps, Glenn Alan (1979): The „Populist“ Films of Frank Capra. In: Journal of American Studies, Band 13, Nr. 3. Cambridge: Cambridge University Press.
Pipes, Daniel (1997): Conspiracy: How the Paranoid Style Flourishes and Where It Comes From. New York City: The Free Press.
Pommrenke, Sascha (2014): Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn. In: Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Anton, Andreas, Michael Schetsche. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Pratt, Ray (2001): Projecting Paranoia. Conspirational Visions in American Film. Lawrence: University Press of Kansas.
Thompson, Kristin (1995): Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden. In: montageAV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Ausgabe 4/1. Marburg: Schüren Verlag
Filme:
Capra, Frank (1939): Mr. Smith Goes to Washington. Culver City, CA: Columbia Pictures. 130 min. Film.
Stone, Oliver (1991): JFK. Burbank, CA: Warner Bros. 206 min. Film.